Forellenfilet

Peter Baeumle-Courth für #kkl52 „Essenz“




Das ganze Leben ist der Versuch, es zu behalten.
Ingeborg Bachmann

Forellenfilet

Heute früh habe ich den Brief zu Ende geschrieben. Endlich. Aber ich habe keine Briefmarken mehr. Ich muss wieder zur Post. Wie mühsam. Dann ziehe ich mich jetzt doch richtig an. Nach der Post werde ich noch etwas zu Mittag essen.

Der Weg ist anstrengend von der Wohnanlage zum Bahnhof. Vielleicht vierhundert Meter. Mit dem Stock kann ich das in zwanzig Minuten schaffen. Zähne zusammenbeißen. Auf den Bahnsteig führt auch eine Rampe. Allerdings schaffe ich die elf Stufen meist besser. Langsam zwar. Aber es geht. Es gibt seit einiger Zeit sogar einen Aufzug. Den hebe ich mir auf für den Tag, an dem es anders nicht mehr gehen wird.

Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Josef Gerber, ich bin 83 Jahre alt. Über vierzig Jahre war ich in Birkenschwand Rechnungsprüfer. Und fast genauso lange verheiratet. Mit meiner Genoveva. So ein schöner Name. So ein schönes Gesicht. So eine treue Seele.

Gleich habe ich den Bahnsteig erreicht. Ich werde mich auf der Bank in dem Wartehäuschen ausruhen. Auf den Zug warten. Wenn er pünktlich sein wird, wird er in zwanzig Minuten kommen. Neulich waren wieder Personen im Gleis. Da kam er erst gar nicht, der Zug. Und dann viel später doch noch. Aber ich schweife ab.

Die Sonne blendet mich etwas. Ich habe die Tasche mit dem Brief, einem Päckchen für meine Tochter und noch ein paar Kleinigkeiten dabei. Mühsam bewege ich mich auf das Wartehäuschen zu. Schritt für Schritt. Vorsichtig. Hinfallen sollte ich jetzt nicht.

Ich sehe, dass auf der Bank schon jemand sitzt. Ein grauhaariger Mann liest in einem Buch. Wie alt mag er sein? Aus meiner Perspektive auf jeden Fall jung. Na gut, 60 kann der schon sein. Er hat sich in die eine Ecke der Bank gesetzt. Nicht in die Mitte. Ich sollte mich besser auch setzen.

Ich frage den Grauhaarigen, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. Er bejaht, meint, das sei selbstverständlich. Das ist es jedoch gar nicht. Was ich schon erlebt habe. Neulich hat ein junger Mann, der da gesessen hat, mich überhaupt nicht wahrgenommen, gar nicht gehört. So fette Kopfhörer hat der gehabt. Was hören die jungen Leute eigentlich heute für Musik? Ach, ich mag das gar nicht wissen. Ich mag Haydn und Mozart.

Ich setze mich neben den freundlichen Herrn, der sich noch etwas aufrechter hingesetzt hat. Ich danke und erzähle ihm, dass ich auf dem Weg nach Bad Hönningen bin. Dort ist die Post ganz nahe beim Bahnhof. Und für mich gut zu erreichen. Hier in der Stadt müsste ich viel bergauf gehen. Das würde Stunden dauern. Das kann ich nicht mehr.

Der Herr neben mir hat sein Buch zugeschlagen, nicht ohne zuvor das Lesezeichen sorgfältig einzulegen. Er sieht mich an, hört mir zu. Das ist nett. In meiner Wohnanlage ist die Henriette auch nett. Sie hört mir gerne zu, hat aber nie viel Zeit. Sie muss sich noch um die anderen Betagten auf der Etage kümmern. Und irgendwann möchte sie auch Feierabend haben. Wenn sie Nachtschicht hat, liegt der Feierabend am Vormittag.

Ich erzähle weiter. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Krebs. Sie wollte unbedingt zuhause bleiben. Nicht in ein Heim gehen. Das habe ich so gut verstanden. Der Mann nickt leicht und sieht mich an. Gleich kommen mir Tränen, schnell weiter erzählen. Zum Glück gab es eine ambulante Pflege, da war meine Genoveva in guten Händen. Doch irgendwann ging es nicht mehr. Vor zwei Jahren. Und ich mag auch nicht mehr. Wenn ich könnte, würde ich heute noch gehen.

Mir scheint, der Mann zuckt ganz kurz, fast unmerklich. Doch ich bin ein guter Beobachter, mir entgeht nichts. Er antwortet in sanftem Ton. Er will mir Mut machen. Lebensmut. Dabei kennt er mich doch gar nicht.

Ich berichte ihm von meinen drei Schlaganfällen. Seitdem geht gar nichts mehr schnell. Und nur noch mit Stock. In der Wohnanlage steht auch ein Rollator. Damit sehe ich jedoch aus wie ein alter Greis. Darum lasse ich den meistens stehen. Ich erzähle dem freundlichen Herrn von der Mühsal mit der Krankenkasse, die nur einen Bruchteil der Kosten erstattet. Manchmal bin ich auch zu langsam, da reiche ich Belege zu spät ein. Für meine Genoveva habe ich einige Jahre lang die Überweisungen gemacht, die ganzen Rechnungen in einem großen Ordner gesammelt. Irgendwann musste ich einen zweiten Ordner anfangen. Da habe ich mich um meine Frau gekümmert, nicht um die Krankenkasse. Was hätten Sie denn gemacht? Ich erwarte keine Antwort und bekomme auch keine. Doch er hört weiter zu. Sein aufmerksamer Blick.

Wissen Sie, seit über einem Jahr habe ich einen Betreuer. So langsam beginnt bei mir die Demenz. Ich vergesse immer mehr. Ich habe auch schon eine Pflegestufe. Das Gericht wollte mir erst einen amtlichen Betreuer zuweisen. Den Herrn Sundner. Als der gemerkt hat, dass ich mehr Hilfe wollte als nur bei meinen Finanzen, ist der schreiend weggerannt. Jetzt habe ich einen anderen Betreuer. Wissen Sie, wer das ist? Das ist mein Sohn. Der wohnt hier in der Gegend, darum bin ich auch in diese Wohnanlage gezogen. Nicht gerade billig, aber ich habe mir ein Polster aufgebaut. Ich habe mich jedoch ein wenig verrechnet. Die Tausendfünfhundert sind nur die Kaltmiete. Was da noch alles dazukommt. Das geht an meine Rücklagen. Wer weiß, wie lange das noch gehen wird.

Ich möchte nicht mehr. Ich bin anderen eine Last. Und mir selbst auch. Doch der da oben will mich nicht. Noch nicht.

Bei diesen Worten zuckt mein beharrlicher Zuhörer wieder etwas. Mit dem da oben hat er wohl nichts am Hut. Na, jedem das Seine. Ich denke, es muss da einen geben, der das alles lenkt. Das ist doch die Essenz des Lebens. Das hat meine Mutter immer gesagt. Ich verstehe nur nicht, warum er mich noch nicht zu sich holt. Es ist so mühsam. Alles. Mein Bein schmerzt.

Wieso ist der Zug noch nicht da? Der Herr neben mir hat es anscheinend nicht eilig, geduldig hält er noch immer sein zugeschlagenes Buch in der Hand und blickt mich an. Er hat die ganze Zeit nicht auf seine Armbanduhr geschaut. Falls er überhaupt eine trägt. Ich erzähle ihm, was ich in meiner Tasche habe. Dass ich zur Post fahre. Nach Bad Hönningen. (Hatte ich das schon erwähnt?) Und danach werde ich im Gasthaus zu Mittag essen. Forellenfilet nach schwedischer Art. Darauf freue ich mich schon sehr. Ich muss dann nicht mehr kochen heute. Ich lache.

Der Zug kommt.




Peter Baeumle-Courth, geb. 1960.

Von 1988 bis September 2023 habe ich in Bergisch Gladbach als Dozent für Mathematik und Informatik gearbeitet, u.a. an der privaten Fachhochschule der Wirtschaft.

Seit Oktober 2023 befinde ich mich in meinem Ruhestand und habe neben meinem Engagement als ehrenamtlicher Schiedsmann auch ein wenig Zeit für meine Hobbys wie das Schreiben von kleinen Geschichten.

Ich wohne in dem kleinen Ort Ockenfels bei Linz am nördlichen Mittelrhein.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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