Was am Ende bleibt

Oliver Fahn für #kkl52 „Essenz“




Was am Ende bleibt

Regennass steht sie vor mir. Ein heftiger Guss torpediert die Ausrichtung ihrer hellgrauen, schulterlangen Haare. Tropfen beträufeln die Stirn, machen Halt auf ihren ausgetrockneten Wangen, verbünden sich mit Tränen und ziehen hinab zu ihrem flaumigen Kinn. Sie blinzelt wegen der Strähnen, die als Vorhang ihre Augen bedecken. Sie schluchzt. Beweint einen Verlust. Leon. Aus ihrem Auf Wiedersehen tönt ein Lebewohl. Adieu Leon. Ab heute gehen wir getrennte Wege!

Loslösung tut weh. In unserer Stätte für intelligenzgeminderte Erwachsene arbeitet Leon. Ihr Sohn muss eigenständig werden. Doch wo bleibt der Trost? Bisher wurde er nach der Arbeit von seiner Mutter abgeholt. Fortan nennt Leon ein Zimmer im angegliederten Wohnheim sein Eigen. Bin ich befugt, ihr mitzuteilen, was sie ohnehin weiß? Sie muss Leon loslassen. Nicht ich. Als langjähriger Pfleger vertraue ich darauf, dass der gröbste Schmerz zurückweicht, sobald Zeit Erkenntnisse bringt.

Tattrig ist sie, ihr Rückgrat gekrümmt. Trotz aller ihr durchaus bewussten Gebrechen merke ich, sie hadert. Nie zuvor war der Zusammenhang zwischen ihrer Konstitution und Leons Lebensvollzug so deutlich. Ihre Nerven seien unterwegs auf der Strecke stetiger Förderprogramme liegengeblieben, bricht es aus ihr heraus. Durch Alltagskomplikationen mit Leon wäre ihre Fähigkeit, ihn zu beaufsichtigen, verlorengegangen. Sein stetiges, einem Kleinkind angelehntes Brabbeln, nichtssagende, zu nichts hinführende Laute, sein beständig schaukelnder Oberkörper, das Nachziehen seiner Augen, wenn Leon seinen Kopf längst gedreht hat. All das belaste. Ihre desolate Verfassung sei Folge von Leons Betreuung zu Hause.

Eine lange Liste übergibt sie mir. Konkrete Umgangsforme(l)n stehen dort nachzulesen. Die Pfleger müssen die benötigten Assistenzleistungen zu jeder Nachtstunde abrufen können. Gewiss, bevor sie sterbe, würde ihr Geist nachlassen. Ehe das geschehe, müsse sie Leon den Wohnplatz gewähren. Ach ja: Pflege nur durch Männer – ist das erwähnenswert? Ich hadere mit ihrer vertrackt anmutenden Systematik.

Sie referiert, hört nicht zu, wässert mit ihren Tränen das Laminat, während sie ihre Bedenken wiederholt. Sie teilt mit. Teilt aus. Verteilt Ratschläge. Konzepte. Sprache scheint zu wenig für das, was sie mitteilen möchte. Ihre fahrige Sprechweise erfasst mich wie ein Strudel, der in Unverständlichkeit hineinzieht. Kann ich ihre essenziellen Anliegen aus dem Nebelgebilde ihrer Satzbauten herauslotsen?

Linksseitig hängt ihre Lippe. Will sie im reißenden Fluss ihrer Rede den an sämtlichen Körperpartien Ausdruck findenden Verfall fortschwemmen? Sie beschreibt ihr Leben als einen Parcours, in dem sie Hindernisse, die Leon kreuzt, florettartig wegfechtet.

Unauffällig notiere ich eine Kurzfassung ihrer Erwartungen, die ich nach und nach schonend abmildere. Leon muss außerhalb des Elternhauses die Reise seines eigenen Lebens begehen. Heute wird er beginnen.




Oliver Fahn, geboren am 21. März 1980 in Pfaffenhofen an der Ilm, wurde kürzlich mit seinem Text „Freiheit fing in Berlin an“ 3. Sieger des Schreibwettbewerbs „Freiheit, die ich meine“ von „3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V.“. Weitere Werke von ihm wurden unter anderem bei Ingo Cesaro, Literaturpreis Harz, dem Verband Katholischer Schriftsteller Österreichs, DUM, Radieschen, eXperimenta, etcetera, von der Stadt St. Pölten und der Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlicht. Im März 2024 wurde er vom Kroggl Verlag zum „Autor des Monats“ gewählt.

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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