Kora Busch für #kkl53 „souverän“
Elke
Als ihr Mann verstarb, wartete Elke kein Trauerjahr ab, ehe sie begann, ihr versäumtes Leben nachzuholen.
Zunächst schrieb sie sich an der hiesigen Hochschule für ein Studium der Physik ein, denn bereits als Dreizehnjährige hatte sie für Marie Curie geschwärmt. Stattdessen hatten die Eltern ihr nahegelegt, sich entweder für eine kaufmännische Ausbildung oder für das Grundschullehramt zu entscheiden, damit sich ihr Beruf später mit dem Familienleben vereinbaren ließe.
Elke hatte nie gerne mit Puppen gespielt; Kinder waren ihr immer zu laut und zu anstrengend. Deshalb entschloss sie sich für die Lehre.
So arbeitete sie also einige Jahre in einer mittelständigen Anwaltskanzlei als Sekretärin, bis sie von ihrem Vorgesetzten geschwängert wurde. Er gefiel ihr nicht wirklich, aber sie wusste auch nicht, wie sie sich seinen gierigen Blicken und Händen hätte entziehen können. Schließlich hatte sie in seinem Vorzimmer eine passable Stellung inne. In der Zwischenzeit war zudem ihr Vater schwer erkrankt. Die Mutter freute sich, wenn die älteste Tochter ihr ein wenig unter die Arme greifen konnte, wo doch die jüngeren Brüder beide noch studierten.
Anfang der 80er-Jahre war es gesellschaftlich verpönt, unverheiratet (oder gar als Single!) ein Kind in die Welt zu setzen. Außerdem wusste Elke, dass sie nicht gerade eine Schönheit war. Was wäre, wenn sie keinen anderen finden würde oder nur einen unnützen Trunkenbold? Solcherlei Gedanken begleiteten sie bis vor den Traualtar.
Da sie ja nun Teil des Familienunternehmens war, überwies ihr Ehemann ihr nach der Hochzeit natürlich kein Gehalt mehr. Sie unterstützte ihn und die Kanzlei, wenn die Schwiegermutter sich um das Baby kümmerte. Nach der Geburt des zweiten Kindes blieb Elke zuhause.
Von nun an glichen ihre Tage einander mehr als eine Hundertschaft weißer Mäuse: Täglich wusch sie Berge an Wäsche (eingesaute Lätzchen, verschmutzte Kinderhosen und die Hemden ihres Manns), schrubbte Böden, kochte frisch, ging in den Supermarkt und in die Drogerie. Die Nachmittage verbrachte sie häufig auf dem Spielplatz, wo sie andere Mütter traf, mit denen sie sich über eingesaute Lätzchen, Rezepte und das neueste Scheuermittel austauschte. Dazwischen prahlte man ausgiebig mit dem eigenen Nachwuchs, der den Gleichaltrigen immer um eine Nasenlänge voraus schien. Elke fühlte sich zutiefst einsam, weil sie im Innersten nicht zufrieden mit diesem Leben war. Dabei hatte sie doch alles: einen netten Mann, ein kleines Häuschen, zwei Kinder, die zwar nicht besser, aber auch nicht schlechter als die anderen kleinen Plagegeister waren. Sie kannte zwei, drei bedauernswerte Frauen aus ihrem Jahrgang, die ein kinderloses, mannloses Dasein fristeten.
Eine von ihnen arbeitete als anerkannte Physikerin an einem stadtbekannten Institut. Manchmal lief sie während ihrer Mittagspause auf der anderen Straßenseite entlang, in ihren maskulin geschnitten Hosen und der unmodischen Topffrisur.
Die wird nie einen finden!, prophezeiten die Spielplatzmütter. Ihre Stimmen hörten sich so bedauernd an, als wäre die Physikerin unheilbar an Krebs erkrankt.
Elke zog den Kopf ein. Sie achtete darauf, modisch mit dem Firlefanz der anderen Mütter mitzuhalten, immer ausreichend geschminkt zu sein und regelmäßig zum Friseur zu gehen. Ihrem Mann war dies jedoch irgendwann nicht mehr genug.
Nachdem sie für beide Kinder einen Platz im Kindergarten gefunden hatten, wollte Elke wieder ins Berufsleben einsteigen. Ihr Mann hatte in der Zwischenzeit allerdings eine kinderlose Stenotypistin engagiert, mit der er sich – nicht nur in beruflicher Hinsicht – viel zu gut verstand, als dass er auf ihre Expertise hätte verzichten können. Zu seiner Erleichterung hatte Elke ohnehin vor, sich bei anderen Firmen zu bewerben. So können wir ein bisschen mehr Geld haben, sagte sie.
Selbstverständlich schaute sie sich nur nach Teilzeitstellen um, damit sie weiterhin ihren Pflichten im Haushalt nachkommen konnte. Ihr Mann fand die Idee gut. Wenn sie noch ein bisschen hinzuverdienen würde, dachte er, bräuchte er sich immerhin weniger Gedanken um diverse Rechnungen für Candle-Light-Dinner zu machen, die er bislang als Bewirtungskosten von der Steuer absetzte.
Es war nicht einfach, als Mutter eine neue Stelle zu finden, aber Elke ließ nicht locker, bis sie mit rot glühenden Wangen einen Vertrag unterzeichnete. Der eigene Job war wichtiger denn eh und je; längst hatte sie nämlich mitbekommen, was zwischen ihrem Mann und der kinderlosen Sekretärin lief. Wenn die Kleinen ein wenig größer sind, kann ich mich scheiden lassen, beruhigte sie sich. Auf keinen Fall wollte sie so eine verhärmte Witwe werden wie ihre Mutter. Deshalb brauchte sie eigenes Geld. Sie eröffnete ein Sparkonto bei einer anderen Bank, von dem ihr Mann nichts wusste, und zahlte monatlich eine bestimmte Summe ein, die sie von ihrem Verdienst abknapste.
Aber das Leben macht einem bekanntlich immer einen Strich durch die Rechnung. Mitten im Büro erlitt ihr Mann im Beisein seiner Vorzimmerdame seinen ersten, juvenilen Schlaganfall.
Während er sich in einer Reha wieder erholen sollte, kündigte Elke ihren Job, um den Schwiegereltern im Familienunternehmen zur Hand zu gehen. Reumütig entschuldigte sich ihr Mann, als er viele Wochen später nach Hause zurückkehrte. Er würde beruflich ein wenig kürzer treten, versprach er ihr, und Elke wurde seine Vorzimmerdame (in beruflicher Hinsicht). Als sie einmal ein Schreiben von der staatlichen Rentenversicherung erhielt, mit dem man sie über ihre zu erwartende Altersrente informierte, konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie hysterisch lachen oder weinen sollte.
Zu allem Überdruss bereitete der Jüngste jetzt auch noch Probleme in der Schule. Mit klopfendem Herzen besuchte Elke Elternabende und führte Lehrergespräche, um ihrem Sohn zu helfen. Ihr Mann arbeitete längst wieder so viel wie früher. Jetzt konnte Elke nicht gehen. Sie wurde gebraucht. Auch die senile Schwiegermutter war immer häufiger auf ihre Hilfe angewiesen.
Nach seinem zweiten Schlaganfall blieb ihr Mann ein Pflegefall. Elke war gerade einmal Ende vierzig; die Kinder waren endlich selbstständig geworden und für ihr Studium ausgezogen. Elke hatte begonnen, ihr eigenes Leben zu führen. Noch relativ lose hatte sie ein Verhältnis mit einem um ein paar Jahre jüngeren Mann angefangen. Doch natürlich konnte sie sich nicht ausgerechnet in dieser Situation scheiden lassen!
Die junge Liebe zerschellte an den scharfkantigen Anforderungen ihres neuen Alltags. Elke versuchte jetzt, alles unter einen Hut zu bekommen: die Pflege, die Kanzlei, die Instandhaltung des kleinen Häuschen.
Sie schaffte es nicht, das Unternehmen zu halten und mit dem verloren Unternehmen verlor sie auch das Häuschen. Ihr Mann kam in ein Pflegeheim und nachher in ein Hospiz, was den Rest des angesparten Geldes verschlang.
Auf seiner Beerdigung kauerte Elke auf der harten Holzbank; unablässig kullerten ihr Tränen aus den Augen. Mit Anfang fünfzig stand sie nicht nur mannlos, sondern überdies auch völlig mittellos da.
Da entsann sie sich ihres Sparkontos, das immer noch existierte. Zwar hatte sich kein Vermögen angesammelt, doch mit den Zinsen war ein erkleckliches Sümmchen zusammengekommen. Tage lang dachte sie darüber nach, was sie mit dem Geld und ihrer restlichen Lebenszeit anfangen wollte.
Sie erfüllte sich ihren Kindheitstraum, endlich das zu studieren, was sie wirklich interessierte. In ihrer Freizeit besuchte sie kurzweilige Tanzveranstaltungen und traf sich mit anderen Menschen, die das Leben mit all seinen Herausforderungen genossen.
Wer weiß, vielleicht tanzt ihr eines Tages sogar ein wirklich netter Mann in die Arme.

Kora Busch, bis zu ihrem Umzug in den Süden Deutschlands war sie Mitglied in der Mainzer Autorengruppe und nahm in diesem Rahmen an Lesungen teil. Seit 2014 wurden sowohl ihre Dissertation über den Autor Paul Zech als auch ein paar kürzere Prosatexte veröffentlicht. 2022 wurde ihre Kurzgeschichte Regenschauer mit dem 4. Rang ausgezeichnet. Im März 2023 erschien ihr Debütroman Schneemänner im September. Aktuell lebt sie mit ihren Tieren wieder im Rhein-Main-Gebiet, wo sie hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist und nebenbei emsig schreibt.
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