Stefanie Peitzmeier für #kkl53 „souverän“
Trampelpfade und freier Fall
„Es gibt auch Checklisten für das Leben.“ Mit diesem Satz verlässt sie das Büro ihres Chefs. Es ist ihr Schlussakkord zu ihrem Gespräch über Compliance Richtlinien und seiner Wortsalve der unterschiedlichsten Schulungsformate dazu. In ihren nicht häufigen, aber regelmäßig stattfindenden Gesprächen, ist sein Wesen anfangs stets heiter und aufgeschlossen. Die Fröhlichkeit hält bis zu dem Moment ihres Gespräches, in dem ihm die sicheren Leitplanken der Standard-Antworten fehlen. Nebelfelder. In die Gleichung gesellen sich Unbekannte.
Und dann passiert der Wechsel: Sein Blick verliert sich und im bleiernen Singsang bricht es aus ihm heraus: Brandschutzschulungen, Datenschutzschulungen, IT-Sicherheitsschulungen, Schulungen zur Verhinderung von Geldwäsche, Schulungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten. Es kommt ihr einmal mehr so vor, als hätte ein fremdes Wesen die Macht über sein Sprachzentrum erobert. Kontextlose Wörter hängen freischwebend im Raum. Sie mimt durch einen zugewandten Blick und regelmäßiges Kopfnicken Interesse. Dann: Die entscheidende Redepause. Sie weiß: Jetzt kommt der Arbeitsauftrag. „Die haben bestimmt `ne Checkliste. Frag mal.“ Vermeintlich konstruktives Gesprächsende. „Das glaubst du doch selbst nicht“, denkt sie lächelnd und blicksicher. Und dann sagt sie die Sache mit der Checkliste für das Leben.
Und sie weiß, was sie sagt. Über viele Jahre waren Listen, Ordnungssysteme und Routinen ihre Rettung in der Welt und ein Bedürfnis wie Hunger und Durst. Dieses Bedürfnis erwachte, als sich die Tür ihres mit Nestwärme und Geborgenheit gefüllten Kinderzimmers erstmals mehr als einen Spalt breit öffnete und den Blick in die Welt freigab. Seitdem war ihr ihr Drang nach Struktur eine treue Weggefährtin, die sich ihr mal in der Sanftmut einer sockenstrickenden Großmutter, mal in der Strenge einer Mathematiklehrerin der Nachkriegszeit zur Seite stellt. Anfangs fand ihr Verankerungsbedürfnis bei steigender Lautstärke des Lebens noch in ihr selbst Halt. Ihre Listen waren die Namen ihrer Stofftiere, akkurat geführte Geburtstagskalender, eine Einrichtungsliste für ihr Zimmer. Das Chaos waren die anderen, der Nullmeridian war sie. Menschen waren ihr nicht per se unsympathisch – kamen sie wohldosiert, berechenbar und in freundlicher Form daher.
Mit ihrer besten Freundin Thea schrieb sie Notenlisten für die Lehrer und Musiklisten für die Nachmittage, die sie meist in ihren Zimmern verbrachten. Für die Jungs führten sie ein kleines Buch, in welches sie Noten für ihr Aussehen schrieben. Waren sie unterwegs, gaben sie sich Handzeichen. Den Daumen versteckt, die verbliebenen Finger fächerartig ausgestreckt: Nur eine vier, wir gingen weiter. Zeige- und Mittelfinger, eine Zwei, die mehr versprechen ließ. Bis heute sieht sie ihren Daumen in der Luft, als sie Theas späteren Mann in der Stadt trafen, ein Bier in der Kneipe am Markt tranken und in der einzigen Disco bis zum Morgengrauen tanzten. Ihr Zweier-Abi verdankte sie ihrer Hartnäckigkeit, wenn es drauf ankam, und ihrer gut strukturierten Zusammenfassung des Lernstoffs der Oberstufe auf 16 DIN-A4-Seiten, 4 für jedes Prüfungsfach.
Die Fassade der selbstsicheren und vernünftigen Tochter bekam nach und nach Risse, die geblockte Stunden, Zigaretten mit Marihuana, kleinere Ladendiebstähle und frühe Liebesabenteuer freigaben. Ihr war ihr Unvermögen, in der Fülle von Ereignissen, Wahrnehmungen und Emotionen ihre eigene innere Führung zu spüren, nicht klar. Außen die glatte See, innen Wellenschlagen und Orkanböen. Es war die Art Leben, in dem sie sich auskannte. Und sie war zufrieden. In einer späteren Erkenntnis erst wurde ihr ihre Flucht vor den Herausforderungen, die ihr die Eindrücke dieses Lebens bereiteten, klar. Als Nerd mit hennaroten Haaren, Bollerbuchsen und Doc Martens erschien ihr die Fallhöhe deutlich geringer.
Und dann kam langsam und schleichend die Leere in ihr Leben. Sie lebte im Dauerlauf, getrieben von Impulsen und Lustgewinn und dem Glauben, dass sich erwachsen sein so anfühlen sollte. Immer ein Ausprobieren. Kein Ankommen. Als sie Phil verließ, waren die Monate danach wie Fahrradfahren mit abmontierten Stützrädern. „Radeln tut man ja auch ohne.“, sagte eine Freundin. Möglich, aber sie beherrschte es nicht. Die Dichte des Lebens und der Eindrücke machten sie unfähig, kluge Entscheidungen zu treffen. Sie war überfordert, die passenden Klamotten für die unterschiedlichen Anlässe zu wählen. Termine mit Prominenten, Politikern und Kulturgrößen der Stadt absolvierte sie unvorbereitet und als Staffage. Die Hauptfiguren der Handlung hingegen, brillierten souverän, ihrer sicher und raumgreifend. Sie fühlte sich immer nicht ausgestattet genug und empfand gleichzeitig den Wunsch, Schritt halten zu müssen. Die Welt drehte sich immer schneller und sie konnte ihr nichts entgegensetzen. Hastig verzehrte Mahlzeiten, teure Klamotten, flüchtige Verabredungen in Clubs und guten Restaurants. Sie trieb im Fluss des Lebens wie ein Korken im Ozean. Geschwindigkeit war ihre Sicherheit.
Nachdem ihr in der IKEA-Markthalle zwischen Servietten und Kerzen ob ihrer Unfähigkeit sich zu entscheiden die Tränen in die Augen schossen, richtete sie sich zu Hause eine Neurosenkasse ein. Jede Alltagsentscheidung, die länger als 2 Minuten dauerte, kostete sie fortan 1 Euro. Nach 9 Monaten hatte sie sich ein kleines Vermögen von 1032 Euro angespart. Umgerechnet war das alle 6 Stunden eine Alltagsentscheidung die länger als 2 Minuten gedauert hatte. Zog man den durchschnittlichen Schlaf von 8 Stunden ab, verkürzte sich die Frequenz auf 4 Stunden. Als sie in der Schwangerschaft begann, Socken und Unterhosen zu bügeln und diese nach Farben sowie ihr über Jahre angehäuftes Schraubensortiment der Größe nach zu sortieren, zog sie die Reißleine. Sie war sich nicht sicher, ob die aus der Kontrolle geratene Strukturbegeisterung und Listenliebhaberei vererbbar waren, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen. Fortan entschleunigte sie durch Yogakurse, Meditationen und der Erkenntnis, dass kleine Kinder nicht nach Checklisten schliefen, aßen und gute Laue hatten.
Mit dieser Stimmung, dem Wunsch nach Nachbarschaften und einem Job ohne Hochglanzgroßraumbüros kehrte sie in ihr Heimatstädtchen zurück. Heute weiß sie: Die bewährten Trampelpfade sind die trittsicheren Momente; die Lernfelder aber, liegen abseits von ihnen. Und sie weiß um ihre Lust und ihr Können, in beidem ein zu Hause zu haben. Mutig einen Schritt in die Luft setzen und abseits des vertrauten Weges weitergehen. Freier Fall versus sichere Landung, Google Maps versus Funkloch. Im Gestaltungsspielraum dazwischen lebt das Leben beständig lebendig.
Zurück in ihrem Büro schreibt sie den Kolleginnen eine E-Mail mit ihrem Anliegen und einer Einladung zu einem kurzen Gespräch. Ihr Chef erhält den Termin ebenfalls, mit dem Hinweis: „Compliance-Richtlinien. Keine Checkliste“. Sie heftet ihre Notizen in den Ordner mit der Beschriftung „Schulungskatalog der Abteilung“ und stellt in neben die anderen Projektordner ins Regal. Ihr Büro ist eine Mischung aus Disneyland-Buntheit und der Klarheit des Barcelonas Pavillons von Mies van der Rohe. Der Schreibtisch ist stets sortiert, die Dateiablage im Computer durchnummeriert. Quartalsweise sortiert sie alte Vorgänge und E-Mails aus. Das grüne Samtsofa und die alte Kommode ihrer Tante musste sie lange verhandeln, sind sie doch keine Büromöbel, die der zentrale Einkauf üblicherweise vorsieht. Fotos hängen neben Motto-Postkarten, Motivationssprüchen und der Pinnwand für spontane Ideen.
Aus irgendeinem Grund ist die CD mit den „diverse Diverse“, die ihr Phil vor vielen Jahren zum Geburtstag schenkte, im Schrank der Tante mit ins Büro gewandert. Sie erinnert sie an den Nachmittag, als sie ihre Lieblingslieder im PC in Ordner mit den jeweiligen Musikrichtungen ablegen wollte. Die letzten 30 jedoch schienen unsortierbar und landeten im Ordner „Diverse“. Weitere 10 fanden auch unter dieser Kategorie keinen sicheren Ort. Ihr findiger Schachzug: Der Unterordner „diverse Diverse“. Sie legt die CD in den Rechner, setzt die Kopfhörer auf und lässt ihre Gedanken auf dem grünen Samtsofa absichtslos wandern.
Stefanie Peitzmeier
wurde 1970 in Hamm (Westf.) geboren. Dem Kunstgeschichts- und Publizistikstudium folgten Jobs für Kultur, Wirtschaft und Bildung im Ruhrgebiet und Berlin. Ihre Lebensmitte ist zusammen mit Kind, Hund & Katze nun wieder ihrer Heimatstadt. Sie möchte die Geschichten hinter den Fassaden erzählen und findet, dass souverän sein und souverän wirken zwei unterschiedliche Dinge sind. Instagram: @sp.meierei
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