Spitzenrand

Jutta Engelhardt für #kkl53 „souverän“




Spitzenrand

Kleinschrittig geht die alte Dame über den Flur, neben ihr ein Mann. Er presst die Lippen aufeinander, legt seine Stirn in Falten. „Komm, setz dich hierher.“, sagt er dann. Die alte Dame zeigt keine Reaktion. Er fasst sie am Arm, sie schaut erschrocken hoch. „Hierher.“ Sein Tonfall ist barsch. „Ah ja.“, murmelt sie und lässt sich langsam auf den Stuhl gleiten. Er nimmt neben ihr Platz, streckt seine Beine aus, greift zur Zeitung. Die alte Dame schaut suchend umher. „Wo ist denn Papa?“ Der Mann neben ihr stöhnt leise. „Wir sind gleich dran“, sagt er, ohne den Blick von seiner Zeitung abzuwenden. Die alte Dame kramt in ihrer Handtasche. Sie zieht ein Taschentuch hervor.

„Das ist ja eine hübsche Arbeit. Haben Sie das selbst umhäkelt?“ Während die Sitznachbarin ihr diese Frage stellt, schaut sie die alte Dame freundlich an, beugt sich etwas vor und zeigt dabei auf den filigran gearbeiteten Spitzenrand des Taschentuches. Die alte Dame lächelt und nickt „Ja, damals hatte ich viel Zeit in meiner Nachtschicht.“ Sie schaut eine Weile ihr Taschentuch an. „Ich habe jeder Wöchnerin bei ihrer Entlassung eines geschenkt.“ Die Sitznachbarin sieht die alte Dame aufmerksam an „Schwester Adelgunde, Sie sind es!“ Ein kleiner Ruck geht durch die alte Dame. „Sind Sie eine Wöchnerin?“, fragt sie. „Ja, Schwester Adelgunde, ich war eine, damals. Ich habe nie vergessen, was Sie zu mir gesagt haben.“ Mit beiden Händen umfasst sie die Hand der alten Dame und deren Taschentuch. „Es hat mir geholfen. Danke schön, Schwester Adelgunde.“

Während des Gesprächs legt der Begleiter der alten Dame die Zeitung zurück. Er hört den beiden Frauen zu. Ein Lächeln zuckt in seinen Mundwinkeln. Er schaut die alte Dame an, sucht ihren Blickkontakt. „Mutter“, sagt er „komm, wir sind an der Reihe.“ Er hilft ihr beim Aufstehen, reicht ihr den Arm und geht mit ihr in die Richtung des Behandlungsraumes.

Die alte Frau schaut sich nach wenigen Schritten um. Sie wendet sich der Sitznachbarin zu. Sie sagt: „Das ist für Sie.“ Lächelnd hält sie ihr das Taschentuch hin.




Jutta Engelhardt lebt, arbeitet und wohnt gemeinsam mit ihrem Ehemann im Sauerland. Schreiben, Lesen und die Malerei sind wichtige Inhalte ihres Lebens.

Sie nutzt kreative Ausdrucksformen für eine stetige persönliche Auseinandersetzung mit den Facetten des Lebens, für eine andere Sichtweise, eine veränderte Perspektive.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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