Eduard G. Schlaffer für #kkl53 „souverän“
Souverän war sie doch
Ein spätes Porträt in leisen Farben
Sie heißt Marianne. Manche nennen sie Marie. Niemand nennt sie laut. Sie ist eine jener Frauen, über die selten Bücher geschrieben werden. Vielleicht, weil sie nicht schrien. Vielleicht, weil sie nicht fortliefen. Vielleicht, weil sie zu oft ein Zuhause waren für andere und dabei sich selbst nicht als Mittelpunkt sahen, sondern als einen ruhigen Hintergrund, auf dem andere ihr Leben entfalten durften. Marianne hatte diese Rolle nie grundsätzlich in Frage gestellt. Sie wuchs in einer Zeit auf, in der Anpassung als Tugend galt, in der Bescheidenheit fast heilig war, und in der das Glück einer Frau nicht darin bestand, sich selbst zu verwirklichen, sondern darin, eine „gute Frau“ zu sein. Und das war sie. Immer. Bis zur Erschöpfung.
Alles war nicht einfach, aber in irgendeiner Weise war sie doch souverän. Sie hatte eine stille Kraft, die man leicht übersah. Sie trug vieles mit Fassung, manches mit Humor, fast alles schweigend. Sie war wie ein großer Stein unter Wasser: unsichtbar, aber tragend. Niemand ahnte, wie viel in ihr gespeichert war. Wie viele Tränen sie nie geweint hatte, wie viele Wünsche sie sich verkniff. Und wie viele Male sie sich selbst zurechtgebogen hatte, um für andere angenehmer zu sein.
Sie hatte früh geheiratet. Ihr Mann war ein Mann von Welt, wie man sagte. Charismatisch, kraftvoll, voller Selbstbewusstsein. Und voller Widerspruch. Er konnte charmant sein, zuvorkommend, sogar zärtlich in den ersten Jahren. Doch bald schon zeigte sich eine andere Seite. Die der Grobheit. Der Geringschätzung. Der Wut, die keine Worte fand, sondern Wege suchte – in Fäusten, in Türen, die knallten, in Blicken, die sie schaudern ließen. Und ja: Er schlug sie. Nicht jeden Tag. Aber oft genug, dass sie sich mit Ausreden zu tarnen begann. Ein böser Sturz, ein Stolpern aus Unachtsamkeit – sie wurden zur vertrauten Fluchtlinie, wenn jemand Fragen stellte.
Trotz allem blieb sie. Vielleicht aus Angst. Vielleicht aus dem Gefühl heraus, dass es eben so sei. Dass das ihr Leben war. Dass sie trägt, was ihr aufgeladen wurde. Und sie trug viel. Ihr Mann, ein Wochenendsportler, Trabrennplatz-Veteran – er verspielt nicht nur Geld, sondern auch Vertrauen. Sie selbst arbeitete in einer angesehenen Konditorei, aufrecht und stolz, von den Kunden geschätzt. Doch als das Kind kam, blieb sie zu Hause. Es gehörte sich so. Ihre berufliche Selbstständigkeit verdorrte leise im Schatten der Mutterschaft und der Ehepflicht.
Erst als ihre Tochter fast erwachsen war, kehrte sie zur Arbeit zurück – zunächst inoffiziell, als Empfangsdame in einem angesehenen Massagesalon. Sie war froh, gebraucht zu werden, etwas Eigenes zu haben. Doch der Betrieb war nicht ehrlich. Als ihr das bewusst wurde, war die Enttäuschung doppelt bitter. Das Geld, das sie verdient hatte, war nicht nur mager, sondern auch unsicher. Als die Firma in Konkurs ging, verlor sie erneut ihr eigenes kleines Fenster zur Welt.
Ihr Mann verdiente gut, ja. Aber er hielt sein Geld fest, wie ein Geheimnis. Sie hatte wenig, lebte sparsam, war aber stets großzügig, wenn jemand Hilfe brauchte. Besonders ihre Tochter unterstützte sie oft, auch dann, wenn es selbst kaum reichte. Und dann war da noch der Hund. Klein, zart, krank. Ein Schoßhund mit Kummer im Blick. Sie liebte ihn sehr. Vielleicht, weil er schwach war. Vielleicht, weil er sich an sie schmiegte, wie es kein Mensch mehr tat.
Als sie endlich begann, sich aus der Ehe zu lösen, war es nicht aus Wut, sondern aus Erschöpfung. Sie hatte geahnt, dass ihr Mann sie betrog, und als sich das bestätigte, löste sich etwas in ihr. Plötzlich war da ein anderer Mann. Freundlich, jünger, mit Gefühl und voll Liebe und Anerkennung. Eine Liebschaft, die sie nie wirklich so nannte, aber die ihr ein anderes Leben zeigte. Eines, in dem sie lächelte, sich nicht rechtfertigte, sich nicht schämte. Es dauerte nicht lang. Doch es war wie ein Echo aus einer möglichen Zukunft, die sie nie gehabt hatte.
Als beide Männer tot waren, blieb nur sie übrig. Sie war nun weit über siebzig. Sie hatte nicht viel. Keine Rücklagen. Kein Auto. Aber sie hatte eine Idee. Reisen wollte sie. Nordkap. Italien. Paris. „Jetzt bin ich dran“, sagte sie einmal. Und dann lachte sie, wie man lacht, wenn man es nicht gewohnt ist, von sich selbst zu sprechen.
Doch dann brachte ihre Tochter ihr einen Hund. Einen neuen. Wieder ein kleiner, zerbrechlicher, hilfsbedürftiger Hund. „Damit du nicht allein bist, Mama.“ Aber sie meinte: „Bleib zuhause! Du sollst nicht auf Reisen gehen!“. Und damit war sie wieder gebunden. An die Wohnung, an den Rhythmus der Fütterungszeiten, an Tierarzttermine – und an das Sofa.
Ein Sturz, ein Autounfall, noch ein Sturz. Ihre Beweglichkeit nahm ab. Die Knie schmerzten. Die Wirbelsäule wurde krumm. Immer mehr führte sie in die Stille zurück. Viele Freundinnen waren bereits verstorben. Andere zogen sich zurück. Die Tochter kam oft, organisierte, half. Aber sie bestimmte auch. Marianne wurde betreut. Bevormundet. Vielleicht sogar gut gemeint, aber sie fühlte sich oft wie ein Kind im eigenen Leben.
Und dennoch: Sie klagte nicht. Wenn man sie fragte, sagte sie: „Mir geht’s eh nicht schlecht.“ Und manchmal meinte sie es sogar. Sie war hell im Kopf, las die Zeitung, sah die Nachrichten. Ihre Hände zitterten ein wenig, doch sie häkelte noch. Ihre Ohren wurden schlechter, aber ihr Blick war klar.
Alle vierzehn Tage ging sie zur Friseurin. Das war ihr Ritual. Ihre kleine Form von Widerstand gegen das Vergessenwerden. Da saß sie, mit frisch geföhnter Frisur, einem alten Seidenschal und dem festen Willen, zumindest für zwei Stunden zu leben, wie sie sein wollte. Nicht wie man sie sah.
Einmal sagte sie: „Weißt du, ich war nie eine Souveräne. Ich war ein stiller Dienst. Aber ich hab nie aufgehört, ich selbst zu sein. Auch wenn ich es nie laut gesagt habe.“
Vielleicht ist das wahre Souveränität. Nicht, dass man herrscht. Sondern dass man nicht zerbricht. Nicht trotz allem, sondern mit allem.
Und in ihrer Weise war sie stärker als viele, die mit lautem Ruf nach Freiheit schrien. Sie war da. Noch immer. Sie lachte manchmal. Schrieb kleine Zettel mit Gedichten. Hätte niemand erwartet. Aber sie tat es. Für sich.
Souverän war sie – nicht trotz, sondern gerade wegen all dem, was sie getragen hatte. In ihrer Großzügigkeit, ihrer stillen Beharrlichkeit und in einem Leben, das vielleicht nicht ihr Traum war – aber ihr Werk.
Eduard G. Schlaffer, geboren 1948, lebt in Wien und im Südburgenland. Er ist Pädagoge, Mediator, Konflikt-, Friedens- und Glücksforscher, Musiker, Imker und Autor. Seine literarischen Texte kreisen um das stille Durchhalten, das Menschliche im Unsichtbaren und die Kraft der Erinnerung. Oft verwebt er persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Fragen – leise und mit einem offenen Blick für das Wesentliche.
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