Oliver Fahn für #kkl53 „souverän“
Der Aufstieg des Atlas
An einem strahlend klaren Morgen, als die Sonne sich gerade dem Horizont näherte, begann Aymen seine Reise. Auf dem alten, reich verzierten Teppich seiner Familie, der bereits viele Jahre in der Ecke des Wohnzimmers geruht hatte, erhob er sich in die Lüfte. Der Teppich, von vielen als Erbstück verehrt, hatte nicht nur Jahre der Geschichte in seinen Fäden verwoben, sondern auch Aymen selbst begleitet, von seiner Kindheit bis zu seinem mittleren Alter. Als der Teppich sanft vom Boden abhob, war es für ihn ein symbolischer Akt: Die Verbindung zu seiner Heimat, zu seiner Familie, zu all den Verpflichtungen, die ihn bisher geprägt hatten, löste sich mit jedem Meter, den sie in die Höhe stiegen.
Seine Frau Laila schlief tief, nichts ahnend von seinem Plan. Der Teppich, den er liebevoll „Safi“ nannte, hatte in der Vergangenheit bereits viele Geschichten von Nähe und Ferne erlebt. Jetzt war es an der Zeit, dass Aymen sich auf seine eigene Reise begab. Der Abschied von seinem Leben, von den ständigen Konflikten und der Zerrissenheit zwischen den Menschen, die er liebte, war endgültig. Selbst wenn er wüsste, dass er nie wieder zurückkehren könnte, so war die Freiheit, die ihn nun umhüllte, berauschend.
„Safi, du wirst mein Begleiter auf diesem Flug sein. Ich vertraue dir“, murmelte Aymen leise, als der Teppich sich immer höher in den weiten, wolkenlosen Himmel erhob. Der Teppich selbst war still, wie es nur Teppiche zu tun pflegen. Doch Aymen spürte eine gewisse Kommunikation in der ruhigen Beständigkeit seiner Bewegungen. Die weiten Länder unter ihm, die Gesichter der vertrauten Städte und Dörfer, begannen sich immer mehr zu verflüchtigen, je weiter sie flogen.
Der Teppich trug ihn über weite Wüsten, durch Gebirgsketten und über Oasen, die wie grüne Inseln im endlosen Sandmeer lagen. Von oben schien alles friedlich und ordnungsgemäß, als wäre der Himmel der wahre Ursprung des Lebens. Doch Aymen spürte, dass es mehr gab als nur das. Der ständige Blick auf die Welt aus dieser neuen Perspektive brachte ihm eine Erkenntnis, die er in den letzten Jahren nie ganz greifen konnte: Alles, was ihm zuvor wichtig gewesen war – die täglichen Kämpfe, die politischen Spannungen und die persönlichen Zwistigkeiten – schienen von hier oben fast belanglos. In der Unendlichkeit des Himmels war die ganze Erde nur ein kleiner Punkt, und all die Dramen und Konflikte, die auf ihr ausgetragen wurden, verloren an Bedeutung.
Doch mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, stieg auch die Zerrissenheit in Aymen. Wo führte diese Reise ihn hin? Würde er jemals wieder den Boden berühren, der ihm vertraut war, oder würde er für immer ein Wanderer bleiben, in der Luft zwischen den Welten? Und was würde er von den Menschen zurücklassen? Laila, die Frau, die ihn immer unterstützt hatte – wenn auch oft unter Spannungen, die nie ganz ausgeräumt worden waren – und die Kinder, Omar und Yasmin, die er trotz allem vermisste. Der Gedanke an sie schnürte ihm das Herz zusammen.
„Safi, wohin führst du mich?“, fragte er, seine Stimme von der Weite des Himmels fast verschluckt. Doch der Teppich antwortete nicht. Es war klar, dass er keine Kontrolle über das Ziel dieser Reise hatte. Vielleicht hatte er nie wirklich Kontrolle gehabt. Vielleicht war es nicht sein Wunsch, sondern ein unausweichlicher Ruf, der ihn von allen Bindungen befreite.
Unter ihm erstreckte sich der Kontinent, über den er einst so vertraut gewandelt war, nun winzig und entfernt. Die Farben des Landes, die er kannte, der lehmige Rotton der Berge, das strahlende Grün der Dörfer, die blauen Streifen von Flüssen, die sich durch die Wüste zogen, begannen sich zu vermischen, als Aymen immer höher flog. Alles verwandelte sich in ein Nebeldickicht aus Eindrücken, die er nicht länger festhalten konnte. So wie das Bild seiner Heimat verschwamm, verschwanden auch die Gesichter der Menschen, die ihn begleiteten, und auch die derer, die er verloren hatte.
Er dachte an Laila. Sie hatte ihm nie zugestanden, dass er die Freiheit suchte. Ihr Leben war das von Verantwortung und Beständigkeit. Sie hatte immer den Boden unter den Füßen gebraucht, während er sich nach dem Himmel sehnte. Aber würde sie ihn wirklich nie mehr wiedersehen? Hatte er sich selbst durch den Schritt der Flucht verraten? Und was würde aus den Kindern werden? Omar, der gerade alt genug war, um die Welt zu verstehen, und Yasmin, die mit jedem Tag wuchs, ein kleiner Spiegel von Laila.
Die Flügel des Teppichs trugen ihn weiter. Nun war Aymen in einer Sphäre, in der Zeit und Raum keine klare Trennung mehr hatten. Und als er das Meer unter sich sah, die Küsten von Ländern, die er nie betreten hatte, wusste er, dass die Reise in eine Zukunft führte, die er nie hatte vorhersehen können. Wäre dies die Erlösung oder die ewige Verdammnis?
Plötzlich spürte er den Fall. Der Teppich neigte sich abwärts, und Aymen, in einem Moment völliger Unruhe, versuchte, sich zu fangen. Aber der Teppich war ihm entflohen.
Ohne zu wissen, was ihn erwartete, fiel Aymen durch den Wind, und unter ihm öffnete sich das Unbekannte.
Als er aufwachte, lag er wieder auf dem Teppich. Doch diesmal war alles anders. Der Teppich, Safi, trug ihn nicht mehr über endlose Landschaften. Stattdessen befand er sich in einer neuen, fremden Welt, einem Land, das zu keiner Karte gehörte, einem Ort, wo der Horizont unendlich schien, aber in jeder Welle des Windes eine Botschaft trug. Ein Ort, an dem das, was hinter ihm lag, ebenso unbedeutend war wie das, was noch kommen würde. Und während er den Blick in die Ferne richtete, fragte sich Aymen: War er nun endgültig frei?

Oliver Fahn, geboren am 21. März 1980 in Pfaffenhofen an der Ilm, gewann 2025 mit seinem Text „Freiheit fing in Berlin an“ den 3. Platz beim Schreibwettbewerb „Freiheit, die ich meine“ des Vereins 3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V. Im März 2024 wurde er vom Kroggl Verlag zum „Autor des Monats“ gewählt. Weitere Texte wurden u. a. veröffentlicht von: Ingo Cesaro, Literaturpreis Harz, Verband Katholischer Schriftsteller Österreichs, Mosaik, DUM, Die Brache, LiteraturRaumDortmundRuhr e.V., VHS Köln, Radieschen, eXperimenta, etcetera, Stadt St. Pölten, Friedrich-Naumann-Stiftung.
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