Das Gedankengefängnis

Florian Stöckle für #kkl54 „denkbar“




Das Gedankengefängnis

August Holzheimer ging durch die Fußgängerzone, um seiner Tochter ein Geschenk für den Geburtstag zu kaufen. Wie üblich war er ganz zerstreut. Er konnte nicht ausschließlich daran denken, was Marie wohl am besten gefallen würde. Er musste auch noch über alles Mögliche grübeln, das ihm spontan in den Sinn kam.

August hatte ein großes Allgemeinwissen. Er hielt sich selbst für sehr schlau. Doch oft fühlte er sich auch in seinem Intellekt gefangen. Die Welt schien an ihm vorbeizuziehen, während er detailliert darüber nachdachte, wie sie das genau tat.

August versuchte schon immer aus seiner Denkleidenschaft das Beste zu machen. Seine Lieben schätzten seine Intelligenz und sein Wissen.

Er hatte gut abgestaubt im Leben. Er arbeitete bei der Unfallversicherung, war im Vorstand der Freiwilligen Feuerwehr, hatte fünf Kinder und eine wunderbare Frau und löste in seiner Freizeit gerne Rätsel. Wegen seinen Kindern, vier Jungen und einem Mädchen, hatte er ziemlich wenig Freizeit für sich.

Gerade dachte August über die Geschichte des Unternehmens Disney nach, weil seine Tochter ein großer Disneyfan war. Ein Gutschein für ein Wochenende im Disneyland Paris war ihm eigentlich zu teuer, käme aber zur Not infrage, falls er nicht zufällig etwas Besseres finden würde. Natürlich müssten sie alle Kinder mitnehmen, auch die großen.

August kannte kein Geschäft, das sich auf Disney-Merchandise spezialisiert hatte, deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass irgendein Laden etwas von Disney im Sortiment haben würde. Vielleicht ein T-Shirt mit einer Disney-Figur, eine Bettwäsche, eine Plüschfigur, neue Disneyfilme, die Marie noch nicht kannte … Bestimmt würde er fündig werden!

Falls es zu wenig gab, was ihm gefiel, überlegte er sich, könnte er noch zwei Lustige Taschenbücher dazukaufen, dann wäre er auf jeden Fall auf der sicheren Seite.

August schaute nach links und nach rechts und fragte sich, in welchem Geschäft er als Erstes suchen sollte.

Da lief er plötzlich gegen eine unsichtbare Wand.

Augenblicklich tat sein linker Fuß höllisch weh. Er stöhnte auf und hüpfte kurz auf einem Bein. Was war das nur? Er ging langsam nach vorn und stieß mit dem rechten Knie auf einen Widerstand.

Neben ihm liefen die anderen Fußgänger unbeeindruckt an ihm vorbei. Schnell bildete sich ein Gässchen um ihn. Nur wenige Leute drehten sich nach ihm um, beschlossen dann aber weiterzugehen.

August boxte mit beiden Knien gegen den nicht sichtbaren Widerstand. Als Nächstes befühlte er die Barriere mit den Händen. Obwohl er nichts sah, fühlte sich die unsichtbare Wand an wie eine gewöhnliche Hauswand. Sie fühlte sich an wie Stein mit einer Schicht Farbe darauf.

August drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er ging etwas in die Knie und verweilte in dieser Pose. Unfassbar!, dachte er.

Er drehte sich wieder um und versuchte vorwärts durch die unsichtbare Wand zu gehen. Seine Nase und seine Stirn stießen auf den nicht sichtbaren Stein.

August kam eine Idee. Wenn es geradeaus kein Durchkommen gab, ging er eben einen Umweg über eine Seitengasse. Dort würde er auch weniger auffallen, sollte er auf eine zweite unsichtbare Wand stoßen.

Was war nur los mit ihm? Es gab keine unsichtbaren Wände! Es musste sich um eine innere Blockade handeln. Tief in ihm drin wollte er wahrscheinlich nicht weitergehen können!

Langsam und vorsichtig ging August in die nächstgelegene Seitengasse. Er schaffte etwa vier Meter, ehe er mit Nase und Stirn wieder auf einen unsichtbaren Widerstand traf.

Als wäre er schwer von Begriff, versuchte August ein zweites Mal die nicht sichtbare Wand zu durchdringen, doch erneut gelang es ihm nicht.

Eine ältere Frau drehte sich zu ihm um. August hätte sich selbst auch irritiert umgedreht, hätte er jemanden neben sich auf der Stelle gehen sehen.

Er lehnte sich mit dem linken Unterarm an die nicht sichtbare Wand und überlegte sich, was dieses Ereignis bedeuten könnte.

Er kam auf die Idee, sein Smartphone zu überprüfen. Aber er hatte keine neuen Nachrichten.

Schließlich registrierte er die Zeit. Es war sechs Minuten nach vier. War um vier irgendetwas gewesen?

August kam nicht darauf und schlenderte deshalb wieder zu der anderen unsichtbaren Wand zurück. Unterwegs fragte er sich, ob er vielleicht eingesperrt war.

Irgendetwas musste um sechzehn Uhr mit ihm passiert sein, dass er sich als einziger Mensch nicht mehr frei in der Fußgängerzone bewegen konnte.

Nachdenklich fuhr er sich in die hinteren Hosentaschen. Sie waren beide leer. Das Geld! Er hatte seinen Geldbeutel zu Hause vergessen und sein Auto stand im Parkhaus!

August blieb stehen und tippte auf seinem Smartphone die Nummer seiner Frau. Bis achtzehn Uhr musste ihr Sohn Marcus zum Fußball gebracht werden. Könnte Helena das noch schaffen?

Zum Glück ging sie ran. „August?“

„Ja, ich bin‘s. Ich hab meinen Geldbeutel zu Hause vergessen. Kannst du ihn mir bringen?“

„Aber klar“, antwortete Helena. „Da warst du mal wieder mit dem Kopf ganz woanders, was? Wo sollen wir uns treffen?“

„Bei Galeria“, meinte August. „Bis dann.“

Helena legte einfach auf.

August machte die letzten paar Schritte zu der Stelle, an der er vorhin nicht weitergekommen war. Vorsichtig streckte er den rechten Arm aus. Doch er spürte plötzlich keinen Widerstand mehr.

Sicherheitshalber ging er noch ein paar Schritte weiter. Dann atmete er erleichtert auf. Das war es also gewesen! Seine Gedanken hatten ihn wieder einmal abgelenkt. Ja, dachte er, so musste es gewesen sein. Nichts Übernatürliches, nur ein Gedankengefängnis. Kein Grund, sich um die eigene Psyche zu sorgen.

August merkte nun, dass er tierisch schwitzte. Das Gefühl, dass etwas geschah, was er sich nicht erklären konnte, hatte ihn sehr aufgewühlt.

Er beschloss in das erste in Frage kommende Geschäft, zu C&A, zu gehen. Umschauen konnte er sich auch ohne Geld.





Fußspuren im Sand

Agnes lag am Strand. Einsam. Die Beine knöcheltief in den Sand gegraben.

Die Hände über dem Kopf verschränkt schaute sie durch die dunklen Gläser der Sonnenbrille gen Himmel. Die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab. Ihre Knöchel kochten wie in einem Backofen.

Timo war noch nicht zurück.

Missmutig ließ sie ihren Blick über die dünenartige Sandlandschaft wandern, die hohe Klippen zu beiden Seiten einschlossen. Dort hinten bei den Dünen parkte der Wagen.

Sie erinnerte sich, wie Timo gestrahlt hatte, als sie den roten Geländewagen ausgehändigt bekommen hatten. Ein Mustang oder so ähnlich. Timo war mit ihr über die Straßen der Küstengegend gerast. Agnes hatte mutig den Kopf durch das offene Fenster gestreckt und den Fahrtwind genossen.

Wenn sie aufsah, erkannte sie noch Timos Fußspuren im Sand. Aber wann immer ihre Augen das Meer nach seinem Schatten absuchten, wurde sie enttäuscht. Er war wohl zu weit raus geschwommen.

Sie hob die Brille einen Moment an und blickte unter den getönten Gläsern auf die kleinen Ziffern der silbernen Armbanduhr. Seit fast einer Stunde war er weg. Nachdenklich wischte sie sich die Schweißperlen von der Stirn und strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht.

„Ein bisschen warte ich noch“, flüsterte sie zu sich selbst und der Zeitschrift, die aufgeschlagen auf ihren braungebrannten Oberschenkeln lag. Sie blätterte in dem Magazin und verlor sich in den kolorierten Bildern.

Als sie zum wiederholten Mal denselben Artikel las, juckte es sie in den Beinen. Sie legte die Zeitschrift beiseite und richtete sich langsam auf.

Ihre Füße verließen den Backofen. Die Sandkörner perlten von ihren Knöcheln, als sie den Strand entlangging.

In der Ferne trieben hohe Wellen. Sie peitschten gegen die zerklüfteten Felsen, die überall aus dem Meer ragten. Das Wasser war so klar, Agnes konnte die Fische darin schwimmen sehen.

Für einen Moment blieb sie nachdenklich stehen. „Timo?“

Sie hatte das Badetuch mitgenommen und legte es nun dort in den Sand, wo die Wellen sanft ausliefen. Sie setzte sich und kühlte ihre Füße, die zu lange im warmen Sand gesteckt hatten.

Der Sonnenhut bot ihr Schatten. Der Hut, den Timo ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.

Ihr Schatten legte sich über die Spuren im Sand. Die Wellen verwischten nach und nach Timos Abdrücke.

Von hier aus würde sie ihn sehen. Nach einer halben Stunde wollte er zurück sein. Bestimmt musste sie sich keine Sorgen machen. Timo war ein guter Schwimmer.

Agnes überprüfte erneut die silbernen Ziffern der Armbanduhr und schob sich die dunklen Brillengläser wieder auf die Nase. Trank aus der Wasserflasche. Schlug erneut die Zeitschrift auf.

Die Sonne strahlte auf sie herab, spiegelte sich im glasklaren Wasser und ließ die Felskanten um sie herum scharf aufblitzen. Eine Stunde zehn.

Timo kam nicht zurück.





Florian Stöckle, im Oktober 1993 in Günzburg geboren, studierte nach dem Abitur Germanistik und Geschichte an der Universität Augsburg. In Germanistik schloss er im Anschluss den aufbauenden Masterstudiengang ab. Geschichten schreibt er seit seiner Kindheit, am liebsten Fantasygeschichten. 2019 nahm er an einem Studierendenseminar der Bayerischen Akademie des Schreibens teil. Einige seiner Geschichten wurden schon veröffentlicht. Florian Stöckle wohnt in der Nähe von Augsburg.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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