Die Prüfung

Kathrine Bader für #kkl54 „denkbar“




Die Prüfung

Wieder einmal war sie auf Arbeitssuche. Wenigstens ein kleiner Nebenjob sollte es sein. Da traf es sich gut, dass sie – völlig überraschend – von einem Bildungsinstitut kontaktiert wurde, ob sie Interesse daran hätte, an einem Lehrgang zum Alphabetisierungstrainer mitzuwirken. Offensichtlich war eine frühere Bewerbung in diesem Institut als Erwachsenenbildnerin im Bereich Bildung nicht im Papierkorb gelandet.

Das Angebot klang verlockend, auch wenn sie auf dem Gebiet Alphabetisierung zwar eine theoretische Ausbildung, jedoch keine praktische Erfahrung hatte. Trotzdem vereinbarte sie einen Termin mit dem – externen – Lehrgangsleiter.

Ein etwa 45-Jährigen öffnete ihr: groß, schlank, mit dichten dunklen Locken, nicht unhübsch. Doch was haftete da in seinen Haaren? Zuerst dachte sie, sie habe sich getäuscht, doch tatsächlich hing dort etwas, das aussah wie eine Holzlocke aus einer Tischlerwerkstatt. Wo sollte die denn herkommen in diesem sauber aufgeräumten Büro?

Während ihr Gesprächspartner den ungefähren Ablauf des Lehrgangs umriss, allerdings ohne näher auf die für sie vorgesehen Rolle bzw. ihre Aufgaben einzugehen, die sie in dem Lehrgang spielen sollte, bemühte sie sich, ihren Blick nicht auf das Dekor in seiner Frisur zu richten, obwohl sie eine große Anziehungskraft ausstrahlte.

Sollte sie ihn auf seinen Toilettenfehler aufmerksam machen? Nein, lieber doch nicht. Mit Mühe konzentrierte sie sich auf die Aussagen ihres Gegenübers, warf ab und zu eine Frage ein, um ihr Interesse an dem Job zu unterstreichen. Und dazwischen bei jeder kleinen Bewegung des Lockenkopfs dieses neckische Auf- und Abwippen des Haaranhängsels! Ganz klug wurde sie aus seinen Ausführungen allerdings nicht, doch rang sie sich nicht dazu durch, sich näher nach dem Ablaufplan der Fortbildung zu erkundigen, weil sie ja aufgrund der Ablenkung etwas in der Richtung überhört haben könnte. Doch aus seinen vagen Angaben meinte sie herauszuhören, dass der vergangene erste Durchgang des Lehrgangs nicht ganz rund gelaufen wäre. Womöglich war die Zuständige, deren Position sie einnehmen sollte, abgesprungen. Diesen Ausdruck gebrauchte er zwar nicht, sondern dass diese ins Ausland gegangen sei. Doch dem traute sie nicht. Wahrscheinlich sollte sie als Puffer zwischen den Teilnehmenden und ihm als Lehrgangsleiter fungieren, Beschwerden und Kritik auffangen. Keine besonders dankbare Rolle.

Nach einer geschätzten Dreiviertelstunde verabschiedeten sie sich mit einem Händedruck. Sie nicht wesentlich schlauer als vorher. Ob das wirklich der richtige Job für sie wäre? Und hätte sie nicht doch dieses merkwürdige Accessoire ansprechen sollen? Bedenken in jeder Richtung.

Beim Abwärtsfahren im Lift dämmerte es ihr: Mutmaßlich hatte er die Sache mit der Holzlocke nur inszeniert, um sie einem Test zu unterziehen, wie sie reagieren würde, ob sie couragiert genug wäre, den ungewöhnlichen Haarschmuck zu thematisieren. Und als Probe ihrer Durchsetzungsfähigkeit.

Den Posten bekam sie jedenfalls nicht. Ihre Enttäuschung hielt sich in Grenzen.




Kathrine Bader, 1956 in Innsbruck geboren, somit Tiroler Europäerin, Gernschreiberin, Katzenliebhaberin. Im Erstberuf Dipl. Sozialarbeiterin, spätes Germanstikstudium. Schreibpädagogin, Schreibcoaching, Biografiearbeit, barrierefreie Sprache, Ausbildung in Poesie- und Bibliotherapie, langjährige Deutschtrainerin. Diverse Veröffentlichungen in Anthologien, gelegentliche Auftritte bei Poetry Slams.
Seit 2009 Kleinunternehmerin: www.dastreffendewort.at






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar