Auf dem Weg zum Bahnwärter

Udo Dickenberger für #kkl54 „denkbar“




Auf dem Weg zum Bahnwärter

Brach ich auf, um den Bahnwärter zu besuchen, folgten mir Zöglinge, um seinen Aussprüchen zu lauschen, doch kein Mädchen wollte ein Praktikum bei ihm absolvieren. Rauschte ein schwerer Güterzug vorbei, landete das Essen in den Gardinen. Der Bannwärter notierte die Farbe der Lokomotiven und klagte darüber, dass ihm kein Wasserturm und kein Überflurhydrant bewilligt wurden. Seit er den Hydranten vor dem Haus der traurigen Mädchen des Bistums gesehen hatte, kannte er kein wichtigeres Thema.

Die Zöglinge waren nicht bereit, ein Praktikum bei der Käsehändlerin anzutreten, und zogen den Wetterdienst wegen des guten Essens und der Ballonfahrten vor. Ging dabei ein Kind verloren, tobte der Generalvikar, unserer Vorgesetzter. Er hatte sich im Hafenviertel der Domstadt entsetzliche Ausdrücke angeeignet und war im Affekt nicht zu bremsen. Er hing sehr an den Mädchen und tat alles, um sie erfolgversprechend zu verheiraten. Er wetterte gegen die kollektiven Heiraten, welche ihm der Kaplan der Schweizergarde des Pontifex bei unserer Weihnachtsfeier nahelegte, weil er pagane Hintergründe fürchtete.

Wanderten wir durch den Wald, waren die Hornsignale des Rentkammerdirektors zu hören, der dem Erbförster Anordnungen mitteilte. Dieser hatte den Naturverein gegründet und dirigierte mehrere Chöre, er litt jedoch darunter, dass er im Schloss wie ein Lakai behandelt wurde. Die Reichsgräfin hatte laut gelacht, als er von dem Auftritt mit seinem Auswahlchor vor dem Sekretär der Glaubenskongregation in der Sixtinischen Kapelle erzählte. Vor dem Wald sahen wir den Reichsgrafen vorüberreiten, der die Mitarbeiterinnen im Haus der traurigen Mädchen zu beeindrucken versuchte, da er seine Waldarbeiter mit unseren Zöglingen zu verheiraten versuchte. Doch unser Leiter lehnte dieses Ansinnen ab.

Überraschend fand der Reichsgraf ein frühes Ende. Er spielte am Martinstag in einer schweren Rüstung des Heiligen, als die Kinder um das Nachbardorf zogen, und verteilte Brezeln. Am Abend stieg er auf seinen Turm, um die Aussicht zu genießen, beugte sich über die Brüstung, verlor das Gleichgewicht und stürzte ab. Bei seiner Bestattung bereitete es Mühe, den Sarg über den doppelläufigen Schlossgraben zu werfen. Jedes Jahr kommen am Martinstag Einheimische vor dem Schloss zusammen und gedachten des Reichsgrafen, denn er war beliebt gewesen.

Zwar hatte er nur noch das Schloss und den Wald, doch bei den Jubiläen der Vereine hielt er die Ansprachen und erläuterte beim Gesangverein, dieser habe seit jeher die Familienfeste im reichsgräflichen Haus bereichert. Bei der Feuerwehr redete er über die tragbare Spritze, welche seine Vorfahren den Einsatzkräften geschenkt hatten, und beim Angelverein erinnerte er an seinen alten Rekord in der Hochseefischei. So wirkten alle einträchtig zusammen. Saßen der Erbförster und der Kaplan der Schweizergarde in unserer Weihnachtsfeier zusammen, lauschten wir andächtig ihren Erzählungen.

Die Zöglinge liebten, mit mir auf dem Domplatz der hinter dem Mittelgebirge liegenden Bischofsstadt zu sitzen und Schlehenkuchen zu verzehren. In den Bergen fragten uns Wildschweine aus ihren Suhlen heraus nach unserem Ziel. Dann erkannten wir den Obelisken in der Mitte des Platzes. Dort wurden die Ministranten in einem Gemeinschaftsgrab bestattet, die dem Dienst zum Opfer gefallen waren. Daheim fehlten die Jünglinge dann in der Landwirtschaft. Ihre Eltern hatten sie geschminkt und bei den Mädchen versteckt, doch sie waren bei der Knabenlese des Bischofs aufgespürt und mitgeführt worden. Der Würdenträger war ein gottesfürchtiger Mann, dem jeder eine Laufbahn in der ewigen Stadt zutraute, doch er kannte kein Erbarmen.

Mit sechs Ministranten eilte er unter dem Baldachin über den Domplatz. Auf die Fragen, die ihm gestellt wurden, antwortete er erst drei oder vier Tage später. Wer dann an der verkehrten Stelle stand, erhielt eine unbrauchbare Auskunft. Der Bischof war ein Orakel und als solches mehrdeutig. Auf dem Heimweg versuchte der Sterndeuter, der im Dorf hohes Ansehen genoss, weil er die drei Magier auf ihrem Weg begleitete, uns die Aussprüche des Bischofs zu erklären.

Die Mädchen genossen eine vorzügliche Ausbildung, sie tanzten und sangen, sie hüpften und sangen. Wir stellten allerdings keine Tanzlehrer mehr ein, weil diese früher verführt hatten und verführt worden waren. Ich lernte den neuen Wanderwart ein, der von allen bedauert wurde. Beim Abschlussball des Tanzkurses hatten er und eine Mitschülerin einander Treue geschworen. Mit der Trauung wollten sie bis zum Abschluss seiner Studien warten. Als er endlich heimkehrte und bei den Schwiegereltern um die Hand der Geliebten anhalten wollte, stellte sich heraus, dass sowohl die Braut als auch deren Schwester längst verheiratet waren. In der gesamten Straße war keine frühere Mitschülerin mehr frei. Unser Kamerad fiel in Ohnmacht und ist lange Zeit nicht erwacht. Als er zu sich kam, stellte er fest, dass er alle Hoffnung verloren hatte. Es gab nun nichts mehr, was ihm Freude bereiten konnte.

Die Mädchen legten Wert auf meine Gegenwart, wenn sie Wildschweine des nahen Lohwalds malten. Diese Tiere arbeiteten an ihrem Fortkommen. Sie waren eitel und wollten einerseits elegant, andererseits muskulös dargestellt werden. Ich riet den Kindern, auf Publikumswünsche nichts zu geben und sich an ihren eigenen Kunstsinn zu halten. Der Flurschütz ärgerte sich, wenn er die Wildschweine aus unserem Park treten sah, wo sie die Bilder begutachtet hatten. Er selber durfte den Park nicht betreten. Der Flurschütz schritt durch den Kreuzgang, stapfte auf und verkündete, wieder sei eine Muck versunken. Die jungen Hausschweine verabredeten sich mit Wildschweinen, kamen vom Weg in den Lohwald ab, folgten dem Grunzen der Unken und versanken im Weiher.

Die Zöglinge kamen zu mir, um Fürbitten zu verfassen, die wir dem Liturgieausschuss unterbreiteten. Leider schmuggelten die Vorleserinnen eigene Fürbitten in den vom Ausschuss autorisierten Kanon. Neben dem Verfassen von Fürbitten war das Singen im Kirchenchor eine Möglichkeit, sich dem Schöpfer zu nähern. Zwei Töchter des Metzgermeisters, die ich bewunderte, sangen im Chor, doch sie beachteten mich nicht. Unternahm der Chor einen Ausflug, fuhr er singend an mir vorbei. Der Chorleiter blickte stolz aus dem Fenster des Fahrzeugs. Ich wurde bewusstlos.

Der Leiter unseres Instituts hatte eine glückliche Hand, wenn er mit dem Generalvikar über die Zukunft der Zöglinge beriet. Beide bestanden auf individuellen Heiraten. Der Leiter genoss im Dorf hohes Ansehen, obwohl die Einheimischen wussten, dass er keine Sünden vergeben durfte, sondern nur seiner Zuversicht, diese seien annulliert, Ausdruck verleihen konnte. Er hatte sein Studium nicht zu Ende gebracht. Zuvor hatte er wegen seiner theologischen Interessen die Heimat, in welcher er den Fährbetrieb der Eltern hatte übernehmen sollen, verlassen und war verflucht worden. Wanderten wir in das Weinbaugebiet, blickten wir auf Reben, Burgen und den breiten Fluss. Eine Prozession zog zur Kapelle. Die Mädchen wollten nicht aufbrechen. Als Feuerwerk in den Himmel stieg, weinten sie.




Udo Dickenberger, geboren im oberhessischen Ilbenstadt, Abitur im hessischen Friedberg, Promotion in Stuttgart mit einer Arbeit über die Poesie von steinalten poetischen Grabinschriften. Zahlreiche durchdachte Aufsätze in gelehrten Jahrbüchern über Epigramme, Spottgrabschriften und einzelne Dichter. Eine in sich stimmige Abfolge schöngeistiger Beiträge in literarischen Periodiken. Mehrere gute Bücher. In Leipzig erschien 1998 die grundlegende Philosophie des Maulwurfs. Alle ihm bekannten Menschen sagen, soweit bekannt, nur Gutes über ihn.   

Kartoffelpfannkuchen, in: Byzanzaeum 1, 2022; Die Überraschung, in:Die Novelle 8, 2019, http://novelle.wtf/die-uberraschung/ ; Fleischhauer und Feuerwehrmann, in: Der Dackel 1, 2016; Die Sänger im Wald, in: Literatur und Kritik 497-498, 2015; Ein ungetreuer Posthalter, in: Erster Bubenreuther Literaturwettbewerb, 2015; Exkursion rund um den Ort, in: Die Novelle 3, 2014; Das Mistvieh, in: Sterz 95, 2004; Auf dem Land, in: NDL 531, 2000; Irrwege, in: Manuskripte 142, 1998.  









Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar