Das Rettende in der Gefahr des Denkens

Martin A. Völker für #kkl54 „denkbar“




Das Rettende in der Gefahr des Denkens

Kaum liegst du im Bett, schon geht das Denken los, was du morgen zu tun hast. Du stehst nochmals kurz auf, um es aufzuschreiben, und legst dich dann wieder hin. Das wiederholt sich einige Male, was die Nacht verkürzt. Auf dem Weg zur Arbeit fällt dir auf, dass du den nächtlichen Zettel, an dem dein Überleben am Tage zu hängen scheint, auf dem Küchentisch vergessen hast. Deine ganze Denkkraft nimmst du zusammen, um alles zu rekonstruieren, aber das Wichtigste bleibt verloren. Das versetzt dich in große Unruhe, die wiederum zum Verlust deiner Tat- und Selbstsicherheit führt. Nun vergisst du auch jene Dinge, an die du gerade eben noch gedacht hast. Du gleichst denen, die in völliger Unbedachtheit, ohne Halt und Geländer, hierhin und dorthin taumeln. Eines allerdings trennt dich von diesen Traumbojen: Ihre freudige Genügsamkeit fehlt dir. Schlimmer noch: Während sie Schlägen und Stößen ausweichen, weil sie, angetrieben durch die andauernden Verwandlungen ihrer Wachträume, durch den Tag tänzeln, bleibst du in nachdenkender Schwere stets dort stehen, wo die nächste Gefahr droht. Die Welt findet ihren Amboss, der unaustilgbar deinen Namen trägt. Wie konnte es dazu kommen? Erst denken, dann handeln: Das ist die Maxime, welche dich seit Jugendtagen begleitet, und sie ist eine schlechte Begleiterin, weil das viele Denken dich kaum zum Handeln kommen lässt. Unbeweglich und fühllos macht dich das Denken. Vieles ist denkbar, und die Möglichkeiten zu durchdenken, führt zu keinem Ende, wie aus dem vermeintlichen Ende einer Wurzel sich aus der Wurzelspitze eine neue Wurzel herausschiebt, die irgendwo nach Wasser sucht, aber keines findet. Du denkst an alles und wirst ein hölzerner Mensch. Philosophie ist keine Lösung, sie ist Teil des Problems. Sie öffnet das Denken und hält dich darin gefangen. Zugegeben: Es ist die falsche Philosophie, die du zu deiner Lehrmeisterin erhoben hast. Cicero lobpreist die richtige Philosophie und zeigt an, was die falsche von der richtigen Philosophie unterscheidet. Die richtige Philosophie, sagt Cicero, sei eine Lenkerin des Lebens, während dein Leben vor lauter Denken an dir vorbeizieht. Folgen wir der Ansicht Ciceros, stiftet und fördert die zu lobende, richtige Philosophie die Gemeinschaft von Denken und Sprechen. Das ist deshalb entscheidend, weil auf diese Weise Denkinhalte ins Leben treten. Es ist gut, wenn dir die Gedanken entlaufen, sie vor mich hintreten und um Einlass bitten. Dieses Hin und Her stellt die Sprache sicher. Sie gibt dem Gedanken die Gestalt. Ohne Sprache bleibt das Denken ein wilder Strauß von Schatten, der den inneren Sinn einschwärzt. Wie das Denken dich innerlich verdunkeln kann, weil es keinen Körper bekommt und ungeboren bleibt, so gibt es ein Sprechen, das zwar von hier nach dort geht, jedoch keinen Inhalt besitzt. Fortwährend klopft etwas an deine Tür, aber immer, wenn du sie bereitwillig öffnest, steht niemand davor. Das gedankenlose Sprechen, das keinen Körper annimmt und bloß ein diffuses Geräusch ohne Wohlklang darstellt, treibt in den Wahnsinn, der dich ebenso erwartet, wenn dich das einschattende Denken dauerhaft übermannt. Der rettende Gedanke ist ein solcher, der den Weg von mir zu dir kennt, ihn findet und niemals scheut. Das falsche Denken klingt auf und wächst zu einem Dröhnen heran, zu einem Brandungsbrüllen von allen Seiten deiner grüblerischen Gefängniszelle. Das richtige Sprechen erkennt die Gefahr und sorgt dafür, dass aus zerstörerisch aufschäumenden Riesenwogen anmutige Wellen werden, die fern von dir in allen Richtungen die Strände bespülen und befruchten. Manchmal hinterlassen diese Wellen Gegenstände, die darauf hindeuten, dass irgendwo ein Schiff untergegangen ist. Sollte es dein Schiff gewesen sein, denke nicht an Hilfe, sondern hoffe darauf, dass Hilfe kommt. Dann wird sie kommen. Höre in dieser Angelegenheit nicht auf Kant. Auch für dich fragt er: „Was darf ich hoffen?“ Wisse denn, dass du alles hoffen darfst, aber längst nicht alles denken sollst.




Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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