Offene Fragen

Florian Oberhuber für #kkl54 „denkbar“




Offene Fragen

Kann man sich je sicher sein, einen Menschen ganz zu kennen?

Stell dir vor: Du bist verheiratet, immer noch glücklich, würdest du auf Nachfrage sagen. Ihr seid allein ans Meer gefahren (die Kinder sind groß und kommen längst nicht mehr mit). Es ist ein windiger Tag, am Strand wenig los, die See aufgewühlt.

„Ich geh ins Wasser.“

„Mhm.“ Sie ist sportlich, liebt das Schwimmen.

Du steckst die Nase in ein Buch. Nach der üblichen Zeit schaust du auf die Uhr. Eine halbe Stunde vergangen, gleich wird sie zurückkommen. Du hoffst, dass du das Kapitel noch zu Ende bringen kannst. Als du mit dem nächsten halb durch bist, wirst du unruhig. Du schaust dich um. Sie ist nicht zu sehen.

Es wird schon nichts sein, sagst du dir. Trotzdem klappst du das Buch zu und stehst auf, beschattest die Augen: ein Dutzend Menschengruppen über den Strand verteilt, ein paar Kinder in der Brandung, draußen rollende Dünung. Du suchst nach dem dunklen Punkt ihres Kopfes, der Gischt ihrer Armzüge. Endloses Grau bis zum Horizont. Unschlüssig stehst du da, während die Unruhe in dir wächst. Sollst du hinausschwimmen, sie rufen, die Leute fragen, ob sie sie gesehen haben?

Du trabst zum Strand, watest ins Wasser, drehst den Kopf links und rechts. „Evelin?“ Deine Stimme ein Krächzen gegen das Rauschen der Brandung. „E-ve-lin!“ Es wird schon nichts sein, aber wenn doch?

Ein Kind starrt dich an. Du ignorierst es, schreist jetzt so laut du kannst: „E-VE-LIN!“ Du wirfst dich ins Wasser, doch kannst du kaum über die Wellen sehen. Panik steigt in dir auf. Was sollst du bloß machen?

Bei dem Kind steht jetzt ein Mann. Du kämpfst dich durch die Brandung zurück, läufst zu ihm: „Haben Sie eine Frau gesehen? So alt wie ich, kurze blonde Haare?“ Er schüttelt den Kopf. In seinen Augen spiegelt sich deine eigene Angst.

Du murmelst einen Dank, läufst auf die nächste Gruppe zu. Mehr Kopfschütteln, Unruhe, Leute laufen zusammen. Dir ist heiß und kalt zugleich. Wo war euer Platz, wo ist sie ins Meer gegangen? Du hast die Orientierung verloren. Bitte lass das nicht wahr sein, bitte lass mich träumen.

Blaulicht, jemand hat die Polizei gerufen. Amtsmäßige Stimmen, ernste Gesichter, dann endlich Motorengeräusche, ein Boot. Warum hat das so lange gedauert, verdammt! Unverständliches Krachen aus Funkgeräten, niedergeschlagene Augen, das Boot dreht ab. Du starrst ihm nach, bis man dir eine Hand auf den Rücken legt und dich wegführt. Eisig kalt hier. Du schlingst die Arme um die Brust, während sie dich befragen, in einen Laptop tippen. Ja, sie war eine gute Schwimmerin. Nein, keine bekannten Krankheiten. War sie unglücklich, hatte sie Probleme, wollte sie dich verlassen, hatte sie Affären? Ein dunkler Schlund von Fragen, Vorwürfen, Schuldgefühlen öffnet sich. Waren ihre letzten Worte wirklich „Ich geh ins Wasser“?

Vier Wochen später, nachdem die Leiche immer noch nicht gefunden wurde, wird der Fall zu den Akten gelegt. Lass gut sein, du musst nach vorne schauen, sagen deine Kinder.




Florian Oberhuber wurde 1975 in Salzburg geboren. Nach einer Karriere als Sozialwissenschaftler wechselte er in die Strategieberatung, derzeit beim Wiener FORESIGHT-Institut. Er veröffentlichte mehrere tausend Seiten Fachliteratur. In Lyrik und Kurzprosa erkundet er weitere Wege, Wahrheit zur Sprache zu bringen. Er hat einen Sohn und lebt in Wien.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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