Christian Rupp für #kkl54 „denkbar“
Halbe Zitrone
Ich habe sie an der Straßenecke stehen lassen. Zumindest in der ersten Version.
Sie hatte die Hände in den Taschen, und ich glaube, sie hat noch etwas gerufen. Es war windig. Ich habe es nicht verstanden.
In der zweiten Version habe ich sie begleitet, bis zur Tür. Wir haben uns umarmt. Einer dieser Abschiede, die mehr nach Gewohnheit schmecken als nach Bedeutung. Aber besser als nichts, dachte ich.
In der dritten Variante fährt sie einfach los. Kein Blick zurück. Ich bleibe auf dem Gehweg stehen und frage mich, ob ich das wollte.
Ich weiß nicht mehr, was wirklich war. Aber ich weiß, was möglich gewesen wäre.
Vielleicht ist das genug. Vielleicht ist das alles, was mir bleibt.
Die Erinnerung an das Gespräch habe ich mehrfach umgeschrieben.
Mal war es warm, das Licht golden, wir saßen draußen, sie trug dieses Kleid, auf dem Zitronen blühten.
Mal war es Winter, sie war krank, trank Tee aus einer Tasse mit Sprung, der mir damals nicht auffiel.
Einmal habe ich sie schreien lassen. Nur ein Satz. Kurz und scharf. Er passte nicht. Ich habe ihn wieder gestrichen.
Ich taste mich an die Wahrheit heran, indem ich sie variiere. Vielleicht bin ich ihr dadurch näher als je zuvor.
Vielleicht habe ich sie längst überschrieben.
Manchmal frage ich mich, ob sie sich selbst erinnert. Und wenn ja, an welche Version.
Und ob sie sich wundert, wenn ich ihr später etwas erzähle, das wir nie erlebt haben.
Oder ob sie einfach nickt und denkt: Könnte schon sein. Könnte wirklich sein.
Einmal habe ich sie zurückkommen lassen. Die Tür ging auf, einfach so, und sie stand da – mit einem geflochtenen Korb voller Äpfel, Bananen, Nektarinen und Trauben, die in dicken Ranken über den Rand quollen.
Keine großen Worte, kein Blick, der etwas erklären musste.
Sie hat nur gesagt: „Du hattest nichts Frisches mehr im Haus.“
In einer anderen Version hat sie nichts zurückgelassen.
Keine Notiz, kein Tuch mit ihrem Parfum, kein gebrauchtes Hemd über der Stuhllehne. Ich habe alles durchsucht.
Nur der Abdruck ihres Körpers im Laken war noch da, wie ein Beweisstück.
Aber auch der ist irgendwann verschwunden – als wäre er im Licht geschmolzen.
Ich weiß, wie sich ihre Schulter unter meiner Hand anfühlte. Ich weiß nicht, ob ich sie je wirklich berührt habe.
Es gibt auch ein Gespräch auf dem Balkon. Ich habe es in verschiedenen Farben geschrieben.
Einmal blüht unter uns eine Magnolie, einmal regnet es, einmal ist da nur grauer Asphalt und das Rauschen eines Wagens, der nie anhält.
In allen Versionen sagt sie: „Ich hätte es dir sagen müssen.“
Nur: Was sie meinte, wechselte je nach Tagesform.
Mal: „Die Sache mit dem verlorenen Schlüssel“ – mit diesem Gesichtsausdruck, als hätte sie gerade einen Witz gemacht, den nur sie verstanden hatte.
Dann wieder: „Dass ich Anstand für eine leichte Form der Tollwut halte“ – bedeutungsschwanger, als stünde draußen der Weltuntergang und trommelte mit den Fingern gegen die Tür.
Und einmal, unvermittelt, fast beiläufig, als würden wir übers Wetter reden: „Meinen echten Namen.“
Ich habe da kurz lachen müssen. Ausgerechnet da meinte sie es ernst.
Ich mache mir Notizen.
Nicht, um etwas festzuhalten, sondern um es nicht zu verlieren. Das ist nicht dasselbe.
„Zitronenkleid – gelb oder weiß?“
„Zahnputzbecher – was hat sie da nochmal gesagt? Irgendwas mit Rand?“
„Warum hast du nie gefragt, ob ich bleibe?“
Manche Notizen sind durchgestrichen. Manche doppelt unterstrichen. Ein paar habe ich gar nicht erst datiert.
Vielleicht, weil ich nicht will, dass sie altern.
Oder weil ich beim Aufschreiben schon wusste, dass ich sie sowieso falsch erinnere.
Einmal bin ich ihr gefolgt. Zwei Straßen weiter bog sie ab, ohne sich umzusehen.
In dieser Szene trug sie hochhackige Schuhe. Solche, die sie nie besessen hat.
Ihre Absätze klackten durch die Gasse. Ich erinnere mich an den Klang auf dem Pflaster – als wäre es ein Morsecode, der mir galt.
Einmal schrieb ich ihr den Brief, den sie nie bekam.
Mit schwarzer Tinte auf schwerem Papier, das nach Staub roch und Risse hatte an den Kanten – Pergament vielleicht, oder nur brüchiges Papier, das vorgab, etwas Bedeutendes zu tragen.
Ich faltete ihn sorgfältig, legte ihn ins Fensterlicht – und beschrieb, wie sie ihn fand, wie ihre Finger zögerten, wie ihre Augen beim Lesen stiller wurden.
Wie sie ihn schließlich wortlos in die Jackentasche steckte, als trüge sie etwas Heimliches davon.
Ein andermal habe ich ihn verbrannt. Den Text. Den Moment.
Es dampfte, weil das Papier noch feucht war – von der Tinte, vom Zweifel, vom Möglichen.
Dann hat sie den Kopf gehoben. Nicht in einer Szene. Nicht in einer Version. Zwischen zwei Absätzen. Einfach so.
Wie jemand, der lange geschwiegen hat und plötzlich weiß, was zu sagen ist.
Sie saß auf dem alten Küchenstuhl, Hände flach auf dem Tisch, die Finger leicht gespreizt.
Der Vorhang war blass und bewegte sich im Luftzug wie ein Satz, der noch nicht zu Ende gesprochen war.
Auf dem Tisch lag ein Löffel. Eine Kaffeetasse mit Lippenrand. Eine Zitrone, halbiert.
Ich weiß nicht, was es damit auf sich hatte.
Nichts davon hatte ich beschrieben.
Sie sah mich an. Nicht streng. Auch nicht traurig. Nur wach.
„Du weißt nicht, wie meine Stimme klingt“, sagte sie.
Ich wollte widersprechen. Aber mir fiel nichts ein, was sicher gewesen wäre.
„Und du weißt nicht, wann ich gegangen bin. Oder ob ich je geblieben bin.
Vielleicht war ich nur ein Satz, den du lange genug gedacht hast.“
Ich blickte auf meine Notizen. Auf das Gekritzel, die Klammern, die Variationen.
Irgendwo stand: Fluchtszene mit Mantel.
Darunter: Sie trägt nichts von dem, was ich ihr zugeschrieben habe.
„Du hast mich in den Regen gestellt und ins Licht.
Du hast mich zum Lachen gebracht, zum Schweigen, zum Zitronenschneiden.
Ich habe getan, was du brauchtest. Was du meintest, erinnern zu müssen.“
Sie stand auf. Der Stuhl knarrte leise. Der Vorhang hob sich ein wenig.
„Aber jetzt reicht es. Ich bin müde. Und ich will nicht mehr neu erfunden werden.“
Da war kein Zweifel mehr, dass sie sich mir entzog.
Ich wollte sie festhalten. Oder wenigstens beschreiben, wie sie sich abwendet.
Ein Satz, ein Schulterzucken, irgendwas.
Aber es ging nicht mehr.
Sie war schon dabei, zu verschwinden – nicht mit Knall, nicht mit Pathos, sondern wie Stimmen in Träumen verstummen: genau dann, wenn sie etwas sagen wollen.
Am Rand meiner Seite: ein leerer Strich. Kein Name. Keine Szene. Kein Ton.
Ich reibe mit einer halben Zitrone über das Blatt – als könnte ich ihr damit eine Geheimschrift entlocken.
Aber es bleibt nur ein Raum, ausgebleicht von Licht und Zitrone – bereit, aber leer.
Und das, was möglich gewesen wäre, schaut mir beim Schreiben über die Schulter.
Christian Rupp, Jahrgang 1982, schreibt literarische Kurzprosa, Miniaturen und gelegentlich Lyrik. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.
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