Im Süßwassermeer

Magdalena Steiner für #kkl54 „denkbar“




Im Süßwassermeer

Der Wasserspiegel reichte bis zum Balkontürgriff ihrer Wohnung im fünften Stock. Mit aller Kraft versuchte sie, die Tür aufzuziehen und gegen die Wassermassen im Zimmer zu drücken. Die dunklen Wolken über der Stadt ließen den späten Vormittag wie die Momente nach einem Sonnenuntergang wirken. Erbarmungslos fiel noch mehr Wasser in Form von Milliarden Tropfen vom Himmel, sodass der Meeresspiegel noch weiter stieg.

Der Gedanke, dass das Wasser noch weiter steigen würde und sie in ein paar Metern die Decke erreichen könnte, ließ Adrenalin durch ihren Körper schießen. Mit aller Kraft umklammerte sie den Türgriff mit beiden Händen, stieß sich mit ihrem Bein an der Wand ab und drückte die Tür ein wenig auf. Sie inhalierte, um sich so dünn wie möglich zu machen, und zwängte sich durch den kleinen Schlitz.

Die Wassermassen außerhalb ihrer Wohnung jagten ihr mehr Angst ins Herz als der Gedanke, bald mit dem Kopf an der Decke zu stoßen. Baumkronen ragten in die Luft und ließen die meterhohen Pflanzen winzig erscheinen. Mit hektischen Bewegungen versuchte sie, sich an irgendetwas festzuklammern. Sie ergriff das Geländer des Balkons und hangelte sich vor, um aufs Dach zu gelangen, wo sie versuchte, sich zu beruhigen. Dafür hatte sie allerdings wenig Zeit, denn der Wasserspiegel stieg mit jedem Regentropfen. Bald würde das ganze Haus unter Wasser stehen. Panisch drehte sie sich von links nach rechts, von rechts nach links und wieder von links nach rechts. Niemand war hier.

Ihr Körper schwankte zwischen „fight“ und „flight“. Warum musste ausgerechnet die Sintflut kommen, wenn sie doch so große Angst vor Wasser hatte? Seit Jahren war sie an keinem See mehr gewesen, geschweige denn am Meer. Zu groß war die Angst, verschluckt zu werden. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als von einer Welle nach der anderen überwältigt zu werden, bis der Unterwasserstrom sie schließlich in die Tiefe zog, wo sich ihre Lungen mit der süßen Flüssigkeit füllten und ihre Zellen im Gewebe nacheinander zu platzen begannen, was zu ihrem sicheren Tod führen würde.

Für einen Moment wurde sie tatsächlich von dem Horror direkt vor ihr abgelenkt. War das vor ihr Süß- oder Salzwasser? Das Ertrinken würde bei salzigem Wasser nämlich anders ablaufen. Nicht so brutal, denn nichts würde platzen. Die Neugier übermannte sie, und sie streckte ihre Hand aus, formte eine kleine Schale mit der Handfläche und schöpfte etwas Wasser in ihren Mund.

Na toll.

Süßwasser.

Wenn sie die gewaltige Kraft der Masse überleben sollte, hatte sie wenigstens Trinkwasser. Wenn sie es nicht überleben sollte (was in ihren Augen wahrscheinlicher war), würde dies ein schmerzvoller Tod werden. Immerhin konnte sie sich nicht vorstellen, dass zerplatzende Zellen in der Lunge angenehm wären. Vielleicht würde sie ja ohnmächtig werden, bevor sie starb. Ein kleiner Wall von Erleichterung und, ja, sogar Hoffnung überkam sie.

Das Gefühl der Geborgenheit währte nicht lange, da auf der anderen Seite des Hauses ein Baumstamm gegen das Dach getrieben wurde, der mit ganzer Kraft das Gebäude zum Wackeln brachte.

Hockend verlor sie das Gleichgewicht und überschlug sich in das weitreichende Blau. Die Wellen waren schlimmer, als sie von oben ausgesehen hatten. Strampelnd versuchte sie, sich über Wasser zu halten. Doch obwohl ihr Kopf über Wasser war, schossen die Regentropfen wie tausend kleine Kugeln auf ihr Gesicht, sodass sie auch dort kaum atmen konnte.

Ein flüchtiger Blick verriet ihr, wie weit sie der Strom schon getragen hatte. Ihr Haus konnte sie kaum noch erkennen.

Plötzlich prallte sie gegen das Metallgestell eines Krans, was sie laut aufschreien ließ. Dabei schwappte so viel Wasser in ihren Mund, dass sie in Panik geriet und noch stärker darum kämpfte, an der Oberfläche zu bleiben. Der Schmerz in ihrem Rücken ließ nicht nach und hinderte ihre Arme und Beine daran, effektiv zu funktionieren. Bei jeder Bewegung verspürte sie einen stechenden Schmerz. Ihr Strampeln wurde immer schwächer, bis der Strom sie hinunterzog.

Sie wirbelte herum, sodass sie oben von unten nicht mehr unterscheiden konnte. Da es selbst der Sonne nicht gelang, durch die dicke Wolkendecke zu dringen, konnte erst recht kein Lichtstrahl zu ihr vordringen. Es war, als hätte ein schwarzes Vakuum sie ergriffen und verschluckt. Es war ein Ort, an dem oben und unten nur ein Märchen war und über Lärm nur mit vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Es war fast friedlich hier unten.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schon längst nicht mehr mit Armen und Beinen versucht hatte, sich irgendwie wieder an die Wasseroberfläche zu kämpfen. In der Dunkelheit öffnete sie ihren Mund und ließ das Wasser in ihren Körper fließen. Schon spürte sie den ersten „Pop“.

Der Regen hatte aufgehört.


Angespannt stand sie vor der Balkontür und erlaubte sich, wieder einzuatmen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte, seit dem Moment, als sie in Gedanken unter Wasser geraten war.


Sie sollte erleichtert sein, dass das Ganze nur in ihrer Fantasie geschehen war. Konnte sie aber nicht. Die Furcht, dass dieses Szenario doch eines Tages Wirklichkeit werden könnte, war zu groß.

Sie versuchte sich daran zu erinnern: Vielleicht passierte nicht alles, was denkbar ist.




Magdalena Steiner wurde 2002 im Salzkammergut geboren und wuchs zwischen den Bergen und Seen Oberösterreichs auf. Zum Studieren schlug es sie nach Wien, wo sie Transkulturelle Kommunikation in Englisch und Spanisch zu studieren begann. Sie fing an, ihre eigenen Geschichten zu schreiben, und durfte ihr Buch „Dein Wunsch ist ihr Befehl“ sowie Kurzgeschichten wie „Von nichts kommt nichts“ und „Detailverliebt“ veröffentlichen.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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