Andrea Tillmanns für #kkl54 „denkbar“
Die Traumsammlerin
Als Marie noch ein Kind war, liebte sie nichts mehr als zu tanzen. Das ganze Jahr hindurch tanzte sie, bei Sonne wie im Regen, und selbst der Winter konnte sie nicht in der engen Stube halten, wo Stühle und Tische ihren Weg versperrten.
Wenn sie über die Wiesen um ihr Elternhaus hüpfte und sprang, fühlte sie sich an manchen Tagen wie eine Elfe, getragen von der Luft unter ihren unsichtbaren Flügeln und dem Himmel näher als der Erde. Der Wind spielte ein Lied, das sie allein nur hörte, der Bach neben dem Haus gab den Takt vor, und die Meisen sangen dazu von der Liebe.
Schon immer war Marie klar gewesen, dass sie nichts anderes tun wollte als zu tanzen. Und so verstanden auch ihre Eltern sofort, dass sie, als sie alt genug war, fortgehen wollte in die große Stadt. Nur dort konnte sie als Tänzerin ihr Brot verdienen, nur dort würde sie nicht jeden Tag auf dem Feld arbeiten und sich um die Tiere im Stall kümmern müssen.
Obwohl Marie aufgeregt war, konnte sie ihre Füße kaum in Zaum halten vor lauter Vorfreude, als sie endlich ihr Heimatdorf verließ und sich auf den Weg in ihre Zukunft machte.
In der Stadt jedoch war alles anders. Die menschenvollen Straßen ließen ihr keinen Platz zum Tanzen. Über die Bühnen und durch die Tanzschulen schwebten längst andere Mädchen, und selbst der Wind hatte seine Lieder in den engen Gassen zwischen den hohen Mauern vergessen.
Marie versuchte es an allen Orten, von denen sie hörte, doch nirgends fand sie einen freien Platz. Nach einigen Wochen begann sie in einer Wäscherei zu arbeiten, um ihre Wirtin weiterhin bezahlen zu können. Mit der Zeit ging sie immer seltener in die Theater, wo jedes bedauernde Kopfschütteln sich tiefer in ihr Herz bohrte.
Dennoch dauerte es noch viele Monde, bis sie sich entschloss, ihren Traum zu vergessen. Von diesem Moment an schmerzte der Verlust sie weniger. Und Marie nahm sich vor, nie wieder einen Traum so groß werden zu lassen.
Sobald sie spürte, dass ihr ein Wunsch zu viel bedeutete, schrieb sie ihn von nun an auf und beschloss, ihn zu vergessen. An manchen Tagen musste sie zwei oder drei Dinge niederschreiben und das Blatt Papier an eine Wand ihres Zimmers hängen, dann wieder besuchte sie wochenlang kein neuer Traum. Manchmal saß sie vor der Wand voller Träume, und sie war froh über all die nicht geweinten Tränen, die nicht erlebten Enttäuschungen, die stets einen Teil von ihr getötet hätten, wenn wieder ein Traum zerbrochen wäre.
Als sie schon einige Jahre in der großen Stadt lebte, lernte Marie einen jungen Mann kennen, der sie so oft zum Essen einlud, bis sie ein erstes Mal zustimmte und dann immer wieder. An einem Sonntag, als er Marie nach einem Spaziergang nach Hause brachte, bat sie den jungen Mann in ihr Zimmer. Und während sie einen Tee kochte, der die Kälte des Herbstabends aus den Gliedern vertreiben sollte, stand er schweigend vor der Wand voller Träume, las hier ein Wort und dort einen Satz, bis sie das Gefühl hatte, ihm diese beschriebenen Blätter erklären zu müssen.
Zum ersten Mal erzählte sie einem Menschen von ihrem allerersten Traum, zu wundervoller Musik zu tanzen, elfengleich und dem Himmel näher als der Erde. Er hörte ihr schweigend zu, nickte, lächelte voller Wehmut, fast als könne er sie sehen, wie sie über die Wiesen um ihr Elternhaus hüpfte und sprang.
„Das ist eine sehr schöne Geschichte“, sagte er schließlich, „sehr traurig und sehr schön. Doch was bedeuten all die anderen Worte?“
Da erzählte Marie ihm von den anderen Träumen, all jenen, die ihr ein Stück zu nahe gekommen waren und denen sie nicht erlaubt hatte, sie noch einmal so zu verletzen wie der erste Traum ihres Lebens.
„Oh“, sagte er und nickte langsam, nichts weiter, doch auch so hörte Marie, dass seine Stimme viel leiser klang als nach ihrer ersten Erzählung.
In dieser Nacht blieb sie noch lange wach, als er schon längst gegangen war. Sie ertappte sich dabei, eine kleine Melodie zu summen, die die Meisen ihrer Kindheit ihr einmal vorgesungen hatten, und mit einem Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die ganze Nacht lang saß Marie in ihrem Zimmer auf dem Boden und las die Worte auf den Blättern, die sie um sich herum ausgebreitet hatte.
Bei manchen Worten wusste sie nicht mehr genau, was sie bedeuteten, und andere Träume erschienen ihr nun nebensächlich. All diese Blätter zerriss sie in winzig kleine Fetzen. Und als die Sonne die ersten Strahlen durch Maries Fenster schickte, war nur noch ein einziges Blatt übriggeblieben. Sie erinnerte sich, wie sie es hastig geschrieben hatte, um diesen neuen Traum so rasch wie möglich zurückzudrängen. Sie hatte damals genau gespürt, wie gefährlich dieser eine Traum werden konnte. Jetzt aber las sie die krakeligen Worte wieder und wieder, und mit jedem Mal tanzten neue Bilder zwischen den Zeilen.
„Vielleicht könnte ich ja …“, begann sie einen Gedanken, „ein Versuch nur, oder zwei …“, bis sie irgendwann zu lachen begann, mit dem Blatt in der Hand hinunterlief auf die Straße und hineintanzte in den neuen Morgen.
Andrea Tillmanns lebt in Ostwestfalen-Lippe, arbeitet hauptberuflich als Hochschullehrerin und schreibt seit vielen Jahren Gedichte, Kurzgeschichten und Romane in verschiedensten Genres. Weitere Informationen zu Veröffentlichungen und Lesungen sind auf http://www.andreatillmanns.de zu finden. Aktuell: „Aachener Ansichten“, ein Foto-Gedichtband.
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