Maximilian Schöner für #kkl55 „Freigeist“
Nach dem Regen
king.kaktus: Hey
violetnoise: Hey
king.kaktus: Was machst du so?
violetnoise: Ich sehe zu, wie der Regen die Welt aufweicht und du?
king.kaktus: Versuche das Rauschen in meinen Ohren auszublenden, gelingt mir so mittelmäßig.
violetnoise: Ohje Tinnitus`?
king.kaktus: Ja, so was in der Art.
king.kaktus: Man darf einfach die Tür nicht aufmachen.
violetnoise: ?
king.kaktus: Keine Gedanken zulassen, die man nicht mehr loswerden will, weil alles, was da ist, ist erstmal da. Ein Ohrgeräusch, das man nicht mehr ausblenden kann. Der Atem oder der Herzschlag, der nicht mehr brav, in aller Stille, das tut, was er soll, sondern sich in den Vordergrund drängt und deine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Plötzlich schneller, dünner und weniger vollständig wird. Oder ein Körperteil, das plötzlich mehr da ist als vorher. Ein zuckendes Augenlid, eine schmerzende Schulter, ein kribbelnder Fuß. Alles läuft gut vor sich hin, bis es das nicht mehr tut.
violetnoise: …kann ich dich irgendwie ablenken?
king.kaktus: Magst du mir erzählen, was du siehst?
violetnoise: Der Regen fällt als Schleier vor meinem Fenster herunter. Der Himmel hat sich noch nicht ganz entschieden, ob er heute Dunkelgraufastschwarz oder Hellschwarzfastgrau tragen will. In den Schrebergärten vor meiner Wohnung leuchten zwei Straßenlaternen in der Farbe eines Sonnenuntergangs. Es sieht aus wie ein Schwarz-Weiß-Bild, in das jemand zwei platzierte Farbkleckse gemalt hat.
king.kaktus: Was hörst du?
violetnoise: Der Regeln trommelt, so wie ein Wartender mit den Fingern auf einen Tisch klopft. Ein gleichmäßiges Rauschen, monoton und tröstlich wie das sanfte Dröhnen eines fahrenden Zuges. Ein Dauergeräusch, das sich nicht aufdrängt, dass sich sanft und leise um die kleinen, alltäglichen Dinge im Hintergrund kümmert, eine weiche Wand als Schutz vor Störgeräuschen. Eine Massage des Trommelfells, Schallwellentherapie, ein Konzert zum Entspannen.
king.kaktus: Danke 🙂 ich mag, wie du schreibst.
violetnoise: Besser?
king.kaktus: Ja. Vorläufig zumindest. Hat besser geholfen als die Podcasts, die ich die ganze Zeit höre.
violetnoise: Dauerbeschallung gegen weißes Rauchen? 😀
king.kaktus: So ungefähr 😀 Hoffe echt, dass die Ausgangssperre bald aufgehoben wird. Wie kommst du denn so durch?
violetnoise: Ach, es geht. Bisschen zocken, lesen, Filme schauen, ab und zu dem Regen zu hören, dann ein bisschen heulen, im Kreis laufen, hyperventilieren und wieder klarkommen.
king.kaktus: Klingt scheiße
violetnoise: Joa.
king.kaktus: Was würdest du machen, wenn jetzt die Sperre aufgehoben würde. Jetzt gleich?
violetnoise: Hm …raus, den Regen auf meiner Haut und in meinen Haaren spüren, die feuchte, kühle Luft in meine Lungen saugen. Unter der Straßenlaterne tanzen, die kleinen Wassertropfen beobachten, wie sie von meinen Haarsträhnen fallen. Durch die Stadt laufen, von Pfütze zu Pfütze springen wie Super Mario. Irgendwann dem Himmel zu sehen, wie er sein Kleid wechselt, von grau zu silbern zu einem blassen Blau, zusehen wie die Sonnenstrahlen die Wolken beiseiteschieben, wie einen schweren Vorhang. Zu sehen, wie die Welt wieder auftaucht, wie in einem beschlagenen Spiegel, der langsam klarer wird, weil man ein Fenster geöffnet hat.
king.kaktus: Das klingt schön 🙂
violetnoise: Und du?
king.kaktus: Unter Menschen gehen. Mich ins Gedränge stürzen, Bars, Konzerte, Cafés, Clubs, Discos, einfach dieses körperlose Gefühl genießen. Ich habe keine Lust mehr ein Ich zu sein, ich will eine Welle im Meer von Bewusstsein werden, mich auflösen in der Menge, eine Stimme im Chor sein, ein Wir. Zumindest eine Zeit lang wieder. Mich in die laue Sommernacht stürzen, das Nachtleben atmen, die Wortgeschwader von hunderten von Menschen hören, auf der Welle schwimmen, den Bass der Musik in meinem Brustkorb vibrieren lassen. Menschen umarmen, lachen, laut sein, mich im Blick und in der Berührung anderer spüren.
violetnoise: Klingt furchtbar für mich 😀 aber ich würde es dir wünschen.
king.kaktus: 😀
king.kaktus: Ich beneide dich ja ein bisschen. War halt vor der Pandemie ständig auf Achse, bins einfach gewohnt unter Menschen zu sein. Im Moment würde ich mir fast wünschen, ein bisschen introvertierter zu sein, wie du. Dann könnte ich das Ganze wahrscheinlich sogar genießen, mal ein Buch lesen oder einen Film anschauen…ich komm einfach nicht zur Ruhe. Ich kann meine eigene Präsenz so schlecht ertragen, wenn ich allein bin.
violetnoise: Das ist ein Wunsch zweiter Ordnung, weißt du?
king.kaktus: ?
violetnoise: Es gibt Wünsche erster Ordnung – Das ist dein Wunsch rauszugehen und zu feiern – und es gibt Wünsche zweiter Ordnung, die sich auf Wünsche erster Ordnung beziehen. Also, wenn du dir wünschst, dass dein Wunsch anderes wäre 😉 Harry Frankfurt hat das so beschrieben.
king.kaktus: Ach krass 😀 Schau, wenn ich ein bisschen mehr lesen könnte, wüsste ich sowas auch.
violetnoise: Ich konnte mir das so gut merken, weil ich mir auch schon ganz oft gewünscht, mehr aus mir rausgehen zu können, in der Schule zum Beispiel. Hab mich auch manchmal dazu gezwungen, mehr zu reden, zu lachen, aber das hat sich furchtbar angefühlt, und die Menschen haben mich immer so komisch angeschaut. Das war einfach dissonant, wie wenn ich ein Instrument auf einer Bühne spielen muss, das ich nicht beherrsche. Ich hab es dann irgendwann gelassen und mich einfach in meine Unsichtbarkeit eingefügt. Hab angefangen an den Rändern zu leben, den Rändern vom Pausenhof, den Rändern von Klassen, Gruppen und Cliquen. Gerade genug „da“, um nicht auffällig abwesend zu sein.
king.kaktus: Ich frage mich, ob ich dich bemerkt hätte. Ich war immer mehr so der Klassenclown-Typ, immer laut und immer im Mittelpunkt. Ich glaube im Nachhinein, ich hatte Angst zu verschwinden, wenn mich niemand mehr sieht und hört.
violetnoise: Klingt nicht so, als ob wir uns und gesehen hätten. Ehrlich gesagt, hab ich Leute wie dich immer eher gemieden, und sie haben sich nie für mich interessiert. Insofern wären wir wahrscheinlich ganz gut ausgekommen. 😉
king.kaktus: Wahrscheinlich hast du recht…ich war glaub ich manchmal auch ganz schön ignorant. Hab mich schon mal gefragt, ob diese ganze Pandemie und die Ausgangssperre vielleicht eine Strafe für irgendwas ist.
violetnoise: Das klingt ziemlich egozentrisch 😀
king.kaktus: Stimmt. 😀
violetnoise: Aber trotzdem vermiss ich auch so vieles. Spazieren gehen, kalte Luft auf meiner Haut, Vogelgezwitscher, Reisen …oder auch einfach nur mal Mitternachts allein ins Kino zu gehen. Hast du das schonmal gemacht?
king.kaktus: Wtf nein, würde mir im Traum nicht einfallen!
violetnoise: Gibt kaum was Besseres (: Allein, mit vielleicht noch ein, zwei anderen schlaflosen Einzelgängern in einem großen Saal, genug Sicherheitsabstand zwischen uns, der Geruch von frischem Popcorn in der leicht verstaubten Luft. Wenn das Licht ausgeht, und die Bilder über die Leinwand flimmern, bin ich einfach nur glücklich, da ist der Film schon fast egal 🙂
king.kaktus: Krass. Irgendwie find ich das mutig.
violetnoise: Warum?
king.kaktus: Ich weiß auch nicht. Ich finde die Vorstellung beklemmend, alleine an den Schalter zu gehen, mir eine Karte zu kaufen und mich mit ein paar anderen, fremden Menschen in einen Saal zu setzen und nach zwei, drei Stunden allein wieder heimzugehen. Keine Ahnung …ich weiß auch nicht warum, aber das ist für mich befremdlich.
violetnoise: Hm.
king.kaktus: Aber irgendwie hat es auch was, wie du das beschreibst. Vielleicht wird ich das auch mal ausprobieren, wenn es wieder geht – einfach nur um zu verstehen, was du meinst. 🙂
violetnoise: Vielleicht werde ich auch nach der Sperre mal wieder ein bisschen mehr unter Menschen gehen. Irgendwie fehlt mir inzwischen auch einfach die Möglichkeit dazu, selbst wenn ich es vorher kaum gemacht habe.
king.kaktus: Seltsam, oder? Irgendwie ist Freiheit was Komisches – selbst wenn wir etwas unter normalen Umständen nicht machen würden, vermissen wir die Möglichkeit, es zu tun?
violetnoise: Total. Das ist auch das Komische an den Wünschen zweiter Ordnung – Selbst wenn wir alles tun können, was wir wollen, wünschen wir uns immer noch manchmal die Freiheit, etwas anderen wollen zu können. So wie du dir manchmal wünschst, mehr allein sein zu wollen und ich mir manchmal wünsche, lauter und geselliger zu sein.
king.kaktus: „Der Mensch kann tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.“ – Arthur Schopenhauer
violetnoise: Oha, hat da jemand etwa doch was gelesen? 😀
king.kaktus: Hab‘s in ‘nem YouTube-Video gesehen 😀 Kann ich auch mal mit einem philosophischen Zitat angeben. Ein kleiner Vorteil von dem ganzen Scheiß, dass ich im Internet ein bisschen Bildung nachhole.
violetnoise: Find ich gut 😉
king.kaktus: Aber es ist auch wirklich was dran. Manchmal frag ich mich, ob ich wirklich frei war, als ich jeden zweiten Tag feiern gegangen bin und ständig unter Menschen war. Manchmal hat es sich auch eher angefühlt, als wäre ich wie das Nutellabrot, das einfach nicht anders kann, als auf die bestrichene Seite zu fallen, oder wie ein Ball, der die Treppe runter rollt – Ich hab mich einfach abends im Club oder in einer Bar gefunden, das war manchmal gar keine Frage von wollen, sondern von nicht anders können.
violetnoise: Hm. Ich glaub ich weiß, was du meinst.
king.kaktus: Ja?
violetnoise: Ja, doch. Nicht genauso, aber ich hab manchmal auch Einladungen zu Partys und Treffen abgesagt, ohne genau drüber nachzudenken, ob ich es nicht doch irgendwie schön oder aufregend fände hinzugehen. Man hört auch irgendwann auf, drüber nachzudenken und macht dann das, was man immer gemacht hat.
king.kaktus: Bis dann plötzlich die Ausgangssperre kommt, und nichts mehr geht
violetnoise: Ja :/.
king.kaktus: Manchmal bin ich so endlos traurig und deprimiert und dann frag ich mich – Was, wenn es vielleicht nie vorbei gehen wird? Was, wenn es immer so bleibt?
violetnoise: Das glaube ich nicht…irgendwann wird es vorbei sein. Sie werden einen Impfstoff finden, oder es gibt die Herdenimmunität, irgendetwas wird passieren. Bisher sind noch alle großen Seuchen der Menschheitsgeschichte irgendwann ausgerottet worden.
king.kaktus: Hoffentlich hast du recht.
violetnoise: Bestimmt.
king.kaktus: Weißt du, was ich schön fände?
violetnoise: Nein, was?
king.kaktus: Wenn ich für den Anfang vielleicht nicht alleine um Mitternacht ins Kino gehen müsste…wenn du vielleicht am Anfang mitgehen würdest, so als Emotional Support.
violetnoise: Aber dann wären wir ja gar nicht mehr alleine im Kino 😀 Das wäre was ganz anderes.
king.kaktus: Stimmt…aber schön fände ich es trotzdem.
violetnoise: Würdest du dann mitkommen, wenn ich mich das erste Mal wieder in eine Bar traue? Club kannst du vergessen, aber vielleicht eine kleine Bar an einem Mittwochabend oder so?
king.kaktus: Nichts würde ich lieber (:
violetnoise: 🙂
king.kaktus: Kann ich dir was Komisches sagen?
violetnoise: Klar, machen wir doch die ganze Zeit schon.
king.kaktus: Ich hab dich ja noch nie im echten Leben gesehen, ich weiß auch gar nicht genau, wie sich deine Stimme anhört. Aber irgendwie gibst du mir so viel Halt gerade. Seit meine Welt hier auf diese 14 Quadratzimmer in meinem Studentenappartement zusammengeschrumpft ist, fühl ich mich so eingeengt und allein, aber freue ich mich jeden Tag darauf, von dir zu lesen, zu hören, wie du die Welt vor deinem Fenster beschreibst, das Philosophieren mit dir und all das. Und schrecklich diese Pandemie ist – irgendwie bin dankbar, dass ich dich kennenlernen konnte, weil wir uns im echten Leben wahrscheinlich niemals begegnet wären. Und ich wollte nur, dass du das weißt.
violetnoise: Pass auf, ich bin superschlecht darin, auf emotionale Nachrichten zu reagieren, aber es freut mich wirklich das zu lesen (: und ich bin auch froh, dass wir uns kennengelernt haben.
king.kaktus: 🙂
king.kaktus: Vielleicht auch irgendwann im echten Leben?
violetnoise: Das wäre schön. 🙂
king.kaktus: Sehr.
violetnoise: Der Regen hat aufgehört. Der Himmel färbt sich jetzt in ein ganz blasses Blau, ein bisschen wie das Weiße im Auge, wenn ein bläuliches Licht leuchtet. Und da, ganz hinten, sieht man einen verwaschenen Sonnenstrahl, wie ein rosafarbener Fleck, wie ein keines Äderchen. Ich hör ein paar Vögel zwitschern, die sich auch wieder raus trauen.
king.kaktus: Das würde ich gerne sehen.

Mein Name ist Maximilian Schöner, geb. am 15.10.1992. Nach meiner Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpfleger habe ich Pflegewissenschaft und Berufspädagogik studiert. Aktuell arbeite ich als Dozent an einer Berufsfachschule und promoviere in Erziehungswissenschaften. Neben Sport und Lesen zählt Schreiben zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen.
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