Ulrike Teepe für #kkl55 „Freigeist“
DIE WILDNIS VOR DER EIGENEN HAUSTÜR
Auf einem unserer Lieblingspfade im Wald änderte sich plötzlich das Licht. Grün-golden reflektierte das Moos, die Blätter leuchteten, als seien sie aus grünen Glas. Bisher, wenn sich die Atmosphäre so verzaubert hatte, waren uns, d.h. meinem Hund Sahid und mir besondere Begegnungen beschert worden. Ein paar Mal war es passiert, dass Rehe vor uns aus dem Dickicht heraustraten, ohne Angst, wenn sie uns sahen. Einmal war es ein Rehkitz mit seiner Mutter, das ausgiebig pinkelte, während die Mutter uns direkt in die Augen sah und ruhig abwartete. Ein anderes Mal hatten wir einen Fuchs getroffen. Seitdem weiß ich, wie Fuchs riecht. Jetzt also traute ich meinem Gefühl, dass gleich etwas Besonderes passieren würde und wechselte in den konzentrierten Leisegang. Beim Heraustreten und Überqueren des größeren Weges zum nächsten Pfad schaute ich kurz herunter und blickte DIREKT auf ein vierblättriges Kleeblatt. Wie oft hatte ich schon Klee durchsucht… und hier war es, ohne danach gesucht zu haben! Ich kniete nieder, bedeutete meinem Hund, sich zu setzen. Es war das einzige, kein anderes dabei, ganz perfekt, vier Blätter, kein Zweifel, kein Fake. Es gibt sie also wirklich! Ich staunte es an, fühlte mich als Glückskind „wusste ich doch, dass es Wunder gibt“. Eine Weile hatte Sahid Verständnis dafür gehabt, dass ich mein Gesicht so konzentriert auf diesen kleinen Fleck Erde gerichtet hatte, aber jetzt reichte es ihm, er wollte weiter. Ich verstand ihn. Nur was sollte, was durfte ich mit meinem märchenhaften Fund tun? Mitnehmen, trocknen und pressen? Ich nehme gerne Sachen, die mir auffallen, von unterwegs mit, Federn, Steine, Tannenzapfen, sowas. Manchmal bewahre ich sie auf, manchmal fliegen sie ins Gebüsch, bevor wir ins Auto steigen. Und jetzt? Wir gingen. Ich ließ das vierblättrige Kleeblatt stehen, gerade weil es so kostbar und selten ist. Vielleicht könnte es sich vermehren und Wunder in die Welt tragen… Ich mochte es nicht besitzen und nicht abreißen. Ich wollte es wiedersehen, dieses Geheimnis mit dem Wald teilen. Dieser Baum gegenüber von jenem in der leichten Kurve, mit dem Ast, der da liegt, ich kenne diesen Weg doch genau, da kann nichts schief gehen, sagte ich mir. Das machte den Abschied leicht. Doch genau das tat es, es ging schief. Als ich paar Tage später zurückkehrte, voller Gewissheit, gleich voller Glück vor einem vierblättrigen Kleeblatt zu hocken, konnte ich es nicht fassen. Es hatten Waldarbeiten stattgefunden, eine Raupe war hier gefahren und hatte die gefällten Bäume abtransportiert. Alles war platt, der kleine Weg doppelt so breit, die Erde umgewühlt von tiefen Reifenspuren am Rand, dort, wo der Klee gestanden hatte. Wie betäubt stand ich da, betrogen. Ich hatte es falsch gemacht, hätte das Kleeblatt mitnehmen sollen. Die Frau der verpassten Gelegenheiten, voilà, c´est moi, das bin ich. Dieses Gefühl, nach bestem Gewissen gehandelt zu haben und dann mit leeren Händen dazustehen. Ein anderes „hätte ich doch“ kam mir in den Sinn. Vor 25 Jahren, als ich mit einem amerikanischen Schlagzeuger, meiner großen Liebe, in Berlin lebte, fand ich als Schauspielerin keine Arbeit. Die Sehnsucht trieb mich um, Filme zu drehen. Ich wollte ins Filmgeschäft und dachte, dass die Filmfestspiele in Cannes hilfreich dafür sein würden. Ich hatte in Cannes und Nizza vier Jahre lang klassisches Ballett und Schauspiel studiert und auf den Filmfestspielen gejobbt. Die Struktur und den Rhythmus des Festivals kannte ich, die Treffpunkte, Das Gebäude, die Wege, Abkürzungen und Geheimwege. Ich musste da einfach hin! Ich sprach mit einem Bankberater, dass mein Konto überzogen würde, akkreditierte mich, mietete einen Wohnwagen auf dem Campingplatz und ein Auto. Und dann war ich wieder da, ein großartiges Gefühl. Ich setzte mich in den Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, um mich herum wuselten die Menschen, eilig, geschäftig, wichtig.
Ich hatte nichts zu tun und kannte niemand. Das wird schon, dachte ich, einfach nur sitzen und gucken. Nach ungefähr zwei Stunden fühlte ich ein ruhiges Augenpaar auf mich gerichtet. Es gehörte einem Mann, der über den Kellner fragen lies, was ich trinken wolle. Kir. Wir unterhielten uns auf Anhieb umwerfend gut, saßen fast drei Stunden in den roten Plüschsesseln. Es lag etwas Besonderes in der Luft, ich merkte, wie er sich in mich verliebte. Ich fühlte das Ungleichgewicht, weil ich es nicht tat, sondern ungleich „nur“ von unserem Austausch fasziniert war. Und nicht mein Ziel aus den Augen ließ, hier Arbeitsbeziehungen zu knüpfen. Er hatte grün-graue Augen. Ich weiß noch heute, worüber wir uns unterhielten, könnte ins Gespräch springen, wo wir aufgehört hatten. Er schlug vor, auf eine Party am Strand zu gehen, eine der großen, schicken mit Einladung und Gesichts-kontrolle. Vor 25 Jahren waren sie weit elitärer als heute. „Du bist nicht richtig angezogen“ sagte er vorwurfsvoll, als wir im Gewühl der Menschen standen, die rein wollten. „Wie kann man auf die Filmfestspiele fahren und nicht die richtigen Sachen dabeihaben!“ Ich murmelte etwas von „spontan“. Natürlich wusste ich, dass ich nicht das richtige anhatte, ich besaß es ja gar nicht, doch trug ich etwas, womit ich mich lebendig und sexy fühlte und hielt daran fest, dass das reichen müsse. Wir schafften es rein, ohne Einladung, denn er hatte einen erfolgreichen Hollywood Film produziert. Ich blieb fest an seiner Hand, das fühlte sich richtig und gut an. Drinnen gab es viele Begrüßungen und small-talks, bei denen er mich als seine Freundin vorstellte. Ich fand das unpassend, wusste nur nicht, wie ich damit umgehen sollte, spielte es herunter und tat so, als höre ich es gar nicht. Doch er meinte es völlig ernst. Erst spät gingen wir auf das Ende des Steges ganz nach hinten. Das Meer klatschte sacht an die Bohlen. Als er mich küsste, war er zart, ganz liebevoll. Es war so berührend und so ernüchternd gleichzeitig, denn in diesem Moment wusste ich, dass ich nicht mit ihm gehen würde, nirgendwohin. Das war das einzige, woran ich mich festhalten konnte in dieser rasenden Welt des Showbusiness: in der Liebe ich selbst zu sein und das zu tun, was ich fühlte. Ich war schüchtern und konnte nur alles oder nichts. Schon gar nicht meinen Standpunkt erklären und durchhalten. Ich entschied mich, zu gehen. Jetzt, ohne Erklärung. Ich ging wie auf einem fremden Planeten, erst vom Steg, geradeaus, Schritt für Schritt, Balken für Balken, dann durch den Festraum, die Treppe hinauf, auf die Straße hinaus in die aufgehende Sonne. Er stand fassungslos, die Arme hingen, er bewegte sich nicht, er sagte nichts, er schaute mir nach. Ich hatte mich einmal umgedreht und wäre fast umgekehrt. Für ihn war es Liebe, er rief noch in Berlin an, lud mich ein. Als Freund hätte ich ihm blind vertraut, als Geliebte schaffte ich nicht den Sprung. Ich war so traurig, dass ich diesen wunderbaren Mann so bitter enttäuschte. Ich war so ratlos, dass ich die Tür zur großen Filmwelt geöffnet hatte und doch nicht eintreten konnte. Nach meiner Rückkehr gab es eine Kluft zwischen mir und dem Schlagzeuger, die sich nie wieder schloss. Das, was man nicht tut, kann einen stärker in die Veränderung zwingen als das, was man tut.
Sahid und ich verließen den umgepflügten Weg und setzten unseren Spaziergang durch den Wald fort. In meinem Kopf wirbelten noch mehr „hätte“ wie Flocken in einer geschüttelten Schneeballkugel. Dann senkten sie sich, und ich wurde ganz still. Es war ein zusammengesetztes Puzzle, das ich sah, und es war wunderschön. Alles passte zusammen. Es hatte sich nicht um verpasste Gelegenheiten, sondern um Entscheidungen gehandelt. Sicher war ich unendlich schüchtern gewesen, doch innerlich? Ein Freigeist, eine Rebellin. Auch ein Reh ist scheu und bleibt ein Wildtier.
Was wäre, wenn ich heute ein vierblättriges Kleeblatt
fände? Die Antwort fällt mir leicht: ich würde es wieder stehen lassen. Es lebe die innere Wildheit!

Ulrike Teepe ist gebürtige Osnabrückerin, Jahrgang 1964. Aufgewachsen ist sie in Luxemburg, den ersten Ballettunterricht bekam sie auf ihren Wunsch mit sechs Jahren. Nach dem Abitur Abbruch des Germanistik/RomanistikStudiums in Tübingen für eine Ballett-und Schauspielausbildung in Frankreich bei Rosella Hightower und Julien Bertheau. Anschließend legte sie für 8 Jahre ihren Wohnsitz nach Berlin für Tourneen, Filme und verschiedene Engagements.
Seit 1997 wohnt Ulrike in Osnabrück und war bzw ist als Tänzerin, Schauspielerin, Sprachcoach, Sprecherin und Sängerin selbstständig tätig. 2005 Weiterbildung im method-acting und längerer Aufenthalt in NYC. Die Pflege der Eltern veränderte alles, und seitdem schreibt sie. Im Oktober 2024 ist bei epubli ihr erstes autobiografisches Buch erschienen:
„Die Wildnis vor der eigenen Haustür“
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