Karin Feltes für #kkl55 „Freigeist“
Birn Out
Jetzt geht das wieder los. Kaum ist der Schnee auf meinen Ästen getaut, beginnt es zu jucken. Käfer und Ameisen laufen an mir auf und ab, ihre Insektenbeinchen haken sich in meine Rinde. Am liebsten würde ich sie abschütteln, doch das kann nur der Wind erledigen und der lässt auf sich warten. Dieser Frühling beginnt zu warm, von Jahr zu Jahr geht es früher los. Meine Nachbarn scheint das plötzliche Kitzeln, Krabbeln und Wuseln nicht zu stören. Wohlig seufzen sie, strecken ihre Zweige nach den Sonnenstrahlen aus. Es knackt und kracht in ihren Kronen. Welch widerliche Geräusche! Dieser plötzliche Lärm! Am liebsten würde ich mir die Schneedecke wieder über die Krone ziehen.
Ich weiß ja, was jetzt kommt. Bald werden meine Blätter sprießen. Falter legen ihre Eier darin ab. Aus denen Raupen schlüpfen, die Löcher in mich hineinfressen. Vögel legen tote Zweige und Unrat in meinen Astgabeln. Spechte malträtieren meine Rinde. Und wenn sich meine Blüten öffnen, raubt mir das Surren und Summen der Insekten den Verstand. Das Frühjahr ist schlimm, der Sommer eine Qual. Die Hitze, der Gestank. Die Früchte, die an meinen Ästen zerren, schwerer und schwerer, bis es kaum noch auszuhalten ist.
Im Spätsommer kommen die Maden, fressen sich fett an meinen Früchten. Danach die Vögel, die in mein Fleisch picken, Stücke herausreißen und offene Wunden hinterlassen, die in der Sonne faulen, Wespen anlocken, ach was – ganze Wespenimperien. Die endlosen Wochen bis zum Herbst, wenn ich endlich meine durchlöcherten Blätter abwerfen kann. Wenn sich die Fruchtmumien lösen und meine Äste wieder leicht werden. Dieses Jahr mache ich nicht mehr mit. Ich steige aus. Kein bisschen Grün wird aus mir heraussprießen. Ich will niemanden anlocken, niemandem Nahrung bieten und niemandem Unterschlupf sein.
„Wo bleiben deine Blätter?“ fragt im April die Kirsche, die seit fünf Jahren neben mir steht. „Du bist immer noch kahl?“
„Das geht dich nichts an.“
„Ich mache mir nur Sorgen. Nagt etwas an deinen Wurzeln? Hast du genug Wasser? Stehe ich dir im Licht?“
„Nein!“
„Bist du morsch? Das wäre früh. So viele Ringe hast du nicht im Stamm.“
„Lass mich in Ruhe!“
Endlich hält sie ihre Borke. Ich genieße die Stille, die sich um mich ausbreitet. Die Käfer und Bienen machen einen Bogen um mich. Hin und wieder landet ein Vogel auf meinen nackten Ästen, fliegt weiter, sobald er merkt, dass es auf mir nichts zu picknicken gibt. Ein paar Tage später geht der Zweistämmige, wie er es im Frühling immer macht, alle Bäume auf der Wiese ab. Er hat mich damals in die Erde gepflanzt und gegossen, bis meine Wurzeln lang genug waren. Als er bei mir vorbeikommt, recke ich mich noch höher. Er tätschelt meinen Stamm. Zupft an meinen Zweigen. Kratzt an meiner Rinde, bis das Grün zu sehen ist. Seltsam, das hat er noch nie gemacht. Es tut weh, Saft sickert aus der Wunde, ich lasse es über mich ergehen. Sicher kann er meine Zurückhaltung verstehen, hat er doch selbst vor einigen Jahren seine Blätter, oder was auch immer das war, was er auf seiner Krone hatte, abgeworfen und keine neuen nachwachsen lassen.
Nie habe ich mich so sauber und frei gefühlt. Die Sonne wärmt mein Holz, der Regen wäscht meine Äste. Ich kann hören, wie sich mein Stamm ausbreitet, meine Zweige sich strecken. Mein Wachstum, das immer überdeckt war von all diesen Blättern, Blüten und Früchten, die ohnehin zur Erde fallen, dem Kreislauf des Lebens zum Opfer. Jetzt kann ich mich endlich auf mich konzentrieren. Einfach nur sein.
„Willst du nicht mal blühen“, fragt die Kirsche. „Bald ist es zu spät. Dann wird dein Obst nicht mehr reif.“
Sie trägt stolz ihre prallen Früchte zur Schau. Dunkelrot glänzen sie in der Sonne. Dabei hockt in jeder zweiten ein Wurm und die Amseln picken daran herum. Bald werden sie von Wespen und Motten umschwirrt und stinken wie ein Mosteimer. Wie sie sich gefällt mit ihrem vergänglichen Schmuck, dieses ungebildete Gehölz.
„Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten, du Tollkirsche“, gebe ich zurück. Beleidigt wendet sie sich von mir ab und schwatzt mit der jungen Aprikose über die üblichen kleingeistigen Themen, das Wetter, immer wieder das Wetter. Das alles lässt mich kalt. Frucht- und blätterlos, mit nackten Ästen, ist das Wetter etwas, was ich sorglos genießen kann. Weder stören mich zu viel Regen noch zu viel Sonnenschein. Ich bin ein Stamm in der Brandung der Zeiten. Kein schnöder Birnbaum mehr, nicht nur definiert über meinen Ertrag. Sondern Pyrus, der Name meine Vorfahren, die noch wild in der Natur gewachsen sind. Zurück zu den Wurzeln! Ich bin so konzentriert auf meine Vision, dass ich den dürren Setzling neben mir erst bemerke, als er mich direkt anspricht.
„Hallo“, ruft er zu mir herauf. „Warum bist du nackig?“
„Ich bin ein freier Baum. Das nennt sich selbstbestimmtes Wachsen.“
„Du wächst doch gar nicht.“
„Ich wachse, wann ich will. Ich ordne mich nicht dem Kreislauf der Natur unter.“
„Bist du nicht auch ein Birnbaum?“
„Ich bin ein Pyrus“, antworte ich stolz und horche dem Klang des Wortes nach. „Ich habe mein Birnen-Dasein abgestreift wie eine zu enge Rinde.“
„Aber wenn man seine Rinde abstreift, verdurstet man“, ruft der Kleine entsetzt.
Er erinnert mich an mich, als Setzling. Wie naiv und grün ich war. Wie froh wäre ich gewesen, hätte ich einen ebenso weisen Baum neben mir gehabt. Ich werde diesen Kleinen unter meine Äste nehmen. Er soll von mir lernen. Mir nachwachsen. Vielleicht werde ich eine ganze Dynastie der Neuen Bäume begründen. Ein eigener Wald. Und ich mittendrin, die höchste Krone der Schöpfung.
Doch was geschieht? Ein Schmerz schlägt tief in mein Holz. Die Welt kippt und ich falle. Hinein in einen Ameisenhügel. Wehrlos ausgeliefert, den Viechern der Wiese, den Käfern, Schnecken, Maden. Welch Qual! Der kleine Setzling schaut auf mich herab, die Zweige gespreizt vor Schreck. Der Zweistämmige steht daneben, die Axt in der Hand.
„Merk dir das“, sagt die Kirsche zu dem Setzling. „Hochmut kommt vor dem Fällen!“
Karin Feltes
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