Kein guter Wille, nirgends

Matthias Spiegel für #kkl55 „Freigeist“




Kein guter Wille, nirgends

Maja Lina ging jeden Tag in den kleinen Park. Es war keine richtige Anlage, eher ein Grünstreifen mit Blumenkübeln, verranzten Bänken und einem Springbrunnen, der wegen technischer Probleme abgeschaltet war. Genau genommen war es ein Hundekackplatz. Überall lag Dreck herum und man musste aufpassen, um nicht hineinzutreten.

Eines Morgens bemerkte Maja Lina einen seltsamen Klumpen. Er lag vor einem der Blumenkübel, und versprach nichts Gutes. Sie sah sich die rosa Flocken genauer an. Dann lockte sie ihre Schützlinge von der Stelle weg, und warf ihnen eine Handvoll Körner hin.

»Hey, Sie da«, rief jemand. Maja Lina drehte sich um und sah im Haus gegenüber eine dicke Frau in Kittelschürze. Sie hatte sich mit beiden Händen auf die Balustrade ihres Balkons gestützt.

»Das ist verboten«, schimpfte die Frau, »Sie müssen wohl Geld zuviel haben.«

»Mein Herz ist größer als mein Portemonnaie«, erwiderte Maja Lina, »haben Sie das hier hingekippt?«

»Werden Sie nicht pampig, sonst hole ich das Ordnungsamt.«

»Das kann ich alleine«, antwortete die Frau mit dem schlohweißen Haar. Sie griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer, die sie für alle Fälle gespeichert hatte. Seit Monaten umsorgte sie die verwilderten Haustauben. In dieser Zeit hatte sie manches erlebt. Die Leute waren nicht gut auf sie und ihre Schützlinge zu sprechen. Einige drohten ihr unverhohlen oder machten sich einen Spaß daraus, hinter ihrem Rücken mit dem Luftgewehr auf Tauben zu schießen oder ihnen gar den Kopf abzureißen. Es war typisch, fand Maja Lina. Die Leute hatten sie jahrhundertelang im Haus gehalten, hatten ihnen den Fortpflanzungstrieb angezüchtet und nun wollten sie nichts mehr von ihnen wissen. Es dauerte lange, bis jemand abnahm und eine halbe Ewigkeit, bis der blau-weiße Kastenwagen endlich kam. Die beiden Beamten wollten erst gar nicht aussteigen. Maja Lina musste insistieren. Widerwillig ließen sie sich zu der Stelle führen. Sie standen breitbeinig da und taten so, als habe sie das Zeug selbst hingekippt. Woher sie überhaupt wisse, dass es sich um Gift handele.

»Sehen so Haferflocken aus dem Supermarkt aus?«

Darauf fiel den Beamten nichts mehr ein. Sie schlenderten zum Wagen und fuhren davon. Die hätten die Sache ruhig aufnehmen, und den Klumpen mitnehmen können, dachte Maja Lina. Zum Glück hatte sie es nicht weit. Sie wohnte zwei Straßen entfernt, in einem Altbau, der wie sie die besten Zeiten hinter sich hatte. Sie holte Schippe und Besen, kehrte die rosa Flocken auf und kippte den Kehricht in eine Plastiktüte. Zu Hause verstaute sie alles in einer Tupperbox und ging damit zur Mülltonne. Im Hof begegnete ihr der Nachbar.

»Zeigen Sie mal her«, sagte Herr Gawanke, der sie auch sonst nicht grüßte. Er riss Maja Lina die Box aus der Hand und nahm den Deckel ab.

»So was gehört nicht in den normalen Müll.«

»Sind doch nur Flocken.«

»Von wegen«, antwortete Gawanke mit ernster Miene, »wenn das in falsche Hände gerät, ist innerhalb von 48 Stunden der Teufel los.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das Rattengift tötet nicht sofort. Es löst innere Blutungen aus. Und das war es dann.«

»Auch bei Tauben?«, fragte Maja Lina. Sie erschrak bei dem Gedanken.

»Sind auch nur Ratten der Lüfte«, entgegnete Gawanke verächtlich, »das Zeug gehört jedenfalls zum Sondermüll.«

Maja Lina hatte andere Sorgen. Sie wusste nicht, ob ihre Schützlinge davon gefressen hatten, musste jedoch mit dem Schlimmsten rechnen. Tauben waren standorttreu. Es war unwahrscheinlich, dass sie sich weit entfernt hatten. Solange sie Futter für sich und ihre Nachkommen fanden, blieben sie an Ort und Stelle.

Zu Hause hielt es Maja Lina nicht lange aus. Sie sah nach Pinky und den anderen, und suchte in der Umgebung nach weiteren Ködern. Der wachsamen Nachbarin war alles zuzutrauen. Zum Glück fand sie nichts Auffälliges. Ihre Schützlinge waren putzmunter. Pinky und die anderen flatterten aufgeregt herum und stürzten sich auf die Körner. Aber es waren erst wenige Stunden vergangen. Maja Lina ahnte, wie aufreibend die nächsten anderthalb Tage werden würden.

Am darauf folgenden Tag war alles beim Alten. Maja Lina setzte sich auf eine Bank und beobachtete Pinky, die sich seit ihrer ersten Begegnung prächtig gemacht hatte. Damals konnte die Arme kaum laufen. Ein Baumwollfaden hatte sich fest um ihre Füße gewickelt. Maja Lina hatte eine Handvoll Sonnenblumenkerne auf den Boden gestreut, sich hinter einem Blumenkübel versteckt und gewartet, bis Pinky nahe genug war. Dann hatte sie schnell zugepackt. Sie war überrascht gewesen, wie einfach alles vonstatten gegangen war. Menschen ihres Alters traute man wenig zu. Das färbte wohl ab. Ihre Reflexe waren viel besser, als sie gedacht hatte. Pinky versuchte sich aus ihrem Griff zu winden, gab ihren Widerstand aber bald auf. Maja Lina machte sich an die Arbeit. Sie suchte den Anfang des Fadens, was sich schwieriger gestaltete als das Einfangen selbst. Sie schwor sich, nie mehr ohne Schere aus dem Haus zu gehen. Vorsichtig wickelte sie den Faden auf. Die Zehen sahen übel aus. Pinky musste furchtbare Schmerzen haben. Maja Lina wollte ihr nicht unnötig weh tun. Sie durfte nicht die Geduld verlieren. Das war leichter gesagt als getan. Jedes Mal, wenn sie dachte, es geschafft zu haben, stockte es wieder. Umso größer war ihre Erleichterung, als Pinky den Faden endlich los war.

Nach ihrer Runde durch den Park, rief sie beim Wertstoffhof an. Der Mitarbeiter bat sie am Nachmittag vorbeizukommen. Dann sei das Umweltmobil da. Der Wertstoffhof lag etwas außerhalb. Maja Lina musste den Bus nehmen. Sie hasste Busfahren. Von dem Gerumpel wurde ihr immer schlecht. Als sie ankam, war der Mann vom Umweltmobil gerade dabei, die Sammeltonnen auf die Laderampe zu schieben. Er knurrte etwas vor sich hin, das Maja Lina nicht verstand, und überprüfte jede einzelne Tonne auf ihre Standfestigkeit. Dann nahm er die Tupperbox entgegen.

»Wo haben Sie das Zeug denn gefunden?«

»In dem kleinen Park bei mir um die Ecke.«

»Sie hätten das Ordnungsamt verständigen sollen.«

»Die waren an meinem Fund nicht interessiert.«

»Da kann wer weiß was passieren. Denken Sie nur an Hunde und spielende Kinder.«

Er warf die Box in eine der Tonnen und fragte nicht einmal, ob Maja Lina sie zurückhaben wollte. Dafür gab er ihr den Rat mit auf den Weg, künftig gleich vorbeizukommen. Die Sammlung sei jeden Monat.

Aus Sorge um ihre Schützlinge lag Maja Lina die halbe Nacht wach. Sie schlief erst gegen Morgen ein. Der Postbote klingelte sie aus dem Bett. Sie zog ihren Bademantel über, und machte auf.

»Einschreiben«, sagte er knapp und hielt ihr ein Gerät zum Unterschreiben hin.

»Haben Sie keinen Stift?«

»Einfach mit dem Finger.«

Maja Lina krakelte mehr schlecht als recht ihren Namen auf das Display. Im Gegenzug händigte ihr der Postbote den Brief aus. Er trug das Wappen der Stadt und war am Vortag aufgegeben worden. Maja Lina öffnete das Kuvert. In dem Schreiben wurde ihr vorgeworfen, wiederholt gegen Paragraf 2, Absatz 1, der städtischen Verordnung bezüglich Wildtieren und verwilderten Haustauben, verstoßen zu haben. Dies stelle eine Ordnungswidrigkeit dar, die nach Paragraf 74, Absatz 2 mit einer Geldbuße von bis 5000 Euro geahndet werden könne. Wegen des wiederholten Verstoßes werde gegen sie ein Bußgeld in Höhe von dreihundert Euro verhängt, zahlbar innerhalb von 30 Tagen.

Fängt das schon wieder an, dachte Maja Lina. Wie damals, als es zum guten Ton gehörte, andere wegen Allem und Nichts anzuschwärzen. Ihre Mutter hatte oft davon erzählt. Vielleicht hatte Maja Lina auch deshalb eine Abneigung gegen jede Form von Ungerechtigkeit entwickelt. Seit damals hatte sich vieles gebessert. Nur die Lust am Verpfeifen schien ungebrochen.

Ich werde die Drehorgel vom Speicher holen müssen, dachte Maja Lina, um das Geld zusammen zu bekommen. Doch so einfach war es nicht. Man konnte sich heutzutage nicht mehr mit dem Leierkasten in die Fußgängerzone stellen. Ohne den entsprechenden Schein drohte weiteres Ungemach. Da brauchte bloß jemand von der Stadt aufzutauchen. Andererseits reichte ihre Witwenrente schon so hinten und vorne nicht. Und irgendwie musste sie das Geld auftreiben.

Maja Lina sah auf die Uhr. Es war halb elf. Seit ihrem Fund waren mehr als 48 Stunden vergangen. Sie war nervös, wie lange nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so feuchte Hände gehabt zu haben. Nicht einmal beim Rendezvous mit ihrem späteren Mann. Der war nun seit drei Jahren tot. Seitdem hatte sie die Hausbar nicht angerührt. Vielleicht sollte ich mir einen genehmigen, dachte Maja Lina. So ein Mutmacher kann nicht schaden. Sie öffnete die Schrankwand, nahm die Cognacflasche und schenkte sich einen doppelten ein. Sie kippte das Glas in einem Zug hinunter. Das Zeug roch besser, als es schmeckte. Es brannte in der Kehle und raubte ihr für einen Moment den Atem. Maja Lina schüttelte sich und verzog ihr Gesicht. Sie ließ sich in den Fernsehsessel fallen. Hier hatte ihr Mann jeden Abend die Tagesschau geguckt und alles, was danach kam. Dazu immer drei Flaschen Bier getrunken. Früher hatte sie sich geärgert, dass sie anschließend die Pfütze vorm Klo aufwischen musste. Jetzt hätte sie was dafür gegeben. Die Kinder waren schon lange aus dem Haus. Sie wohnten weit weg und kamen selten zu Besuch.

Maja Lina spürte eine wohlige Wärme aufsteigen, die bald ihren ganzen Körper erfasste. Sie stand auf und schenkte nach. Beim zweiten Mal brannte es schon weniger. Und beim dritten Glas fand sie den Cognac gar nicht übel. Sie musste wieder an ihre Schützlinge denken. Es war höchste Zeit, dass sie nach ihnen sah. Vorher las sie noch einmal den Brief durch. Einer alten Dame am Zeug flicken, dachte Maja Lina. Diese Apparatschiks! Sie war ja nicht einmal verwarnt worden. Und dann das. Sie schwor sich, Einspruch einzulegen und auf keinen Fall klein beizugeben. Egal, wie die Sache ausging.

Als Maja Lina am Park ankam, sah sie keinen ihrer Schützlinge. Sie rief ein paar Mal nach Pinky, doch nichts geschah. Ich bin viel zu spät, sagte sie sich. Aber dann segelten Pinky und die anderen vom Dach eines Nachbarhauses. Maja Lina war außer sich vor Freude. Ihre Schützlinge waren alle wohlauf.

»Ich bin vielleicht eine Rabenmutter«, entschuldigte sie sich. Sie hatte in der Aufregung das Wichtigste vergessen. Mit vom Alkohol zittrigen Knien schwankte sie zum Drogeriemarkt. Die Kassiererin erkannte Maja Lina und nickte ihr kurz zu, als sie den Laden betrat. Die Armen müssen ausgehungert sein, dachte Maja Lina. Sie lud drei Packungen geschälte Sonnenblumenkerne in ihren Einkaufskorb und ging zur Kasse.

»Für Ihre Piepmätze?«

»Sie meinen wohl Ratten der Lüfte«, entgegnete Maja Lina mit einem süffisanten Lächeln. Die Kassiererin hielt ihr Bon und Wechselgeld hin, und verkniff sich jedes weitere Wort.

Ihre Schützlinge waren in der Tat hungrig. Kaum hatte sie eine Handvoll Kerne verstreut, pickten sie wild drauf los. Heute ist ein besonderer Tag, beschloss Maja Lina. Sie ging herum und verteilte auch den Rest. Wie auf Kommando kamen sie aus allen Richtungen angeflogen. Maja Lina traute ihren Augen nicht. Der Grünstreifen war bald voller Tauben, und es wurden immer mehr.




Matthias Spiegel arbeitete zunächst als DJ und Erzieher. Seine Kurzgeschichten und Erzählungen erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien in Belgien, Deutschland, Österreich und der Schweiz.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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