Tina Pfeifer für #kkl55 „Freigeist“
Der Denker
8.8.88, notierte Herbert in die linke obere Ecke seines olivgrünen Notizbuchs. Schwungvoll zog er eine Linie unter das Datum, dann lehnte er sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er drückte seinen breiten Rücken fester in die Rückenlehne, bis die Vorderbeine des Sessels abhoben und er sanft zwischen Hauswand und Tischkante vor- und zurückschaukelte. Der unter seinem Körper filigran wirkende Metallsessel ächzte leise. Herbert zog fest an der Zigarette und ließ seinen Blick über die mit dem Lineal gezogenen Linien im Notizbuch schweifen. Für einen Moment legte sich der Zigarettenrauch über das Papier, hüllte alles in ein sanftes Grau und raubte ihm die Sicht. Er wedelte mit der Hand. Gleich darauf leuchtete ihm die blaue Tinte wieder entgegen, wie ein Verkehrsschild, das plötzlich aus dem Winternebel auftaucht. «8.8.88», murmelte er. «Ein prachtvolles Datum.» Er nickte, als wollte er seine Aussage dadurch bekräftigen, und zog erneut an der Zigarette, wobei er die Augenlider ein wenig senkte und einen verheißungsvollen Blick in den Himmel warf.
Nein, es war kein Tag wie jeder andere. Auch wenn er durchwegs normal begonnen hatte: aufstehen, zur Arbeit fahren, arbeiten, Mittagspause mit Ernst, der wieder einmal zahlreiche dreckige Witze auf Lager hatte, weiterarbeiten, wieder nach Hause fahren, auf den Balkon setzen. Ich hätte in der Früh auf den Kalender schauen sollen, ärgerte sich Herbert nun, dann hätte ich diesen besonderen Tag besser gewürdigt. Vielleicht hätte ich blau gemacht.
Er dachte an den aufgebrachten Kunden mit der zerkratzten Fliese, der Schuld war, dass er nicht um 12 Uhr, mit Werner, sondern erst eine halbe Stunde später, mit Ernst in die Mittagspause gehen konnte. Und dadurch fiel ihm wiederum Ernsts fürchterlicher Witz über das Schwulenpaar in der Sauna ein. Herbert schüttelte den Kopf. Und dann der Anschiss des schmierigen Robert wegen des falschen Etiketts … Ja, blaumachen wäre eine gute Idee gewesen.
Die Vorderbeine des Sessels fielen laut krachend auf die Terrassenfliesen, Herbert legte die halb gerauchte Zigarette in den Aschenbecher und verschwand in der Wohnung. Zielbewusst steuerte er den Kühlschrank an. Ein Päckchen Butter lag im Seitenfach, neben einer Flasche Ketchup und einer halben, in Stanniolpapier verpackten Knackwurst. In den restlichen Regalen stapelten sich Bierflaschen. Nachdenklich kratzte er sich am Hintern. Nein, ein Bier erschien ihm heute nicht passend. An einem Tag wie heute brauchte es etwas Besonderes. Er schloss die Kühlschranktür. Irgendwo musste doch noch das Geburtstagsgeschenk von seiner Mutter sein. Er öffnete den Küchenschrank. Teller, Gläser, Töpfe, Käseglocke. Herbert stutzte. Die musste Renate vergessen haben. Seine dünnen Lippen wurden noch schmaler. Grummelnd ging er in die Knie und öffnete die Tür unter der Spüle. «Ha!», rief er aus. Das Geburtstagsgeschenk stand gleich neben – dem Rasierapparat. Da war er also. Er kraulte sich den langen Bart. Eigentlich war der schön weich. Und entgegen den Warnungen seiner Mutter hatte sich auch noch kein Essen darin verfangen. Herbert ließ den Rasierapparat, wo er war, nahm das Geburtstagsgeschenk, dazu ein Glas, ein Bierglas – die anderen hatte Renate – und ging zurück auf den Balkon.
Im Sonnenschein betrachtete er das Etikett der bauchigen Flasche, die ihm die Mutter mit den Worten: «Für einen besonderen Moment» überreicht hatte. Sie hatte dabei an Herbert vorbei, zu Renate geschielt und bedeutungsvoll die Augenbrauen hochgezogen.
Na ja, aus dem besonderen Moment war nichts geworden, aber es gab ja noch andere. So wie diesen. Er klopfte auf die Tischkante. «8.8.88», sagte er laut, seine sonore Stimme schallte durch die Hausanlage. Er füllte das Bierglas, wie man ein Bierglas eben füllt, erhob es und machte einen kräftigen Schluck, wie man das als passionierter Biertrinker eben tut. Eine süße Flüssigkeit verteilte sich in seinem Mund und wollte so gar nicht geschmeidig die Kehle hinunterplätschern, wie ein Bier das zu tun pflegt. «Buä», entfuhr es Herbert, wobei ihm der edle, aber leider klebrige französische Orangenlikör in seinen Bart tropfte.
Er lief zurück in die Küche, wo er den Bart unter den Wasserhahn hielt. Und wo er schon in der Küche war, nahm Herbert gleich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Das war vielleicht nicht besonders, schmeckte dafür aber. Sogleich spülte er mit dem kühlen Blonden den letzten Tropfen Orangenlikör aus seinem Mund.
Erleichtert ließ er sich wieder in seinen Terrassenstuhl sinken. Nun war wieder alles so, wie es sein sollte. Da fiel sein Blick auf das Notizbuch. 8.8.88, leuchtete ihm entgegen. Er stellte die Bierflasche auf den Tisch, ließ ein Fingergelenk nach dem anderen laut aufknacken und griff nach dem Stift. Jetzt fühlte er sich bereit, jetzt konnte er loslegen, seinen Gedanken freien Lauf lassen. Ja, jetzt würde er endlich sein lang geplantes Projekt beginnen und allen zeigen, was in ihm schlummerte! Aber jetzt – fiel ihm nichts ein. Herbert kaute am Ende des Kugelschreibers. 8.8.88, wiederholte er gedanklich immer wieder. Es müsste etwas über die Unendlichkeit sein. Wegen der ganzen Achter, dann hätte der Text gleich Symbolcharakter. Toll, freute er sich und setzte zum Schreiben an. Doch noch bevor er den ersten Buchstaben geschrieben hatte, hielt er ein. Ja, Unendlichkeit – und weiter? Er drehte den Stift zwischen seinen Fingern. «Unendlichkeit, ohne Ende, endlos», murmelte er jeden einzelnen Gedanken, der ihm dazu einfiel, aber schon nach endlos geriet er ins Stocken. «Eine lange Zeit», sagte er und schnaufte, «eine echt lange, lange Zeit.» Er starrte auf das weiße Blatt. «Langeweile», seufzte er schließlich und griff nach der Bierflasche.
«Das gibt’s doch nicht», schnaubte er dann und nahm wieder den Stift in die Hand. «Komm schon», feuerte er sein Gehirn an. 8.8.88. Irgendwas Wichtiges, was wirklich Wichtiges, ja, etwas Essenzielles. «Das Leben!», rief Herbert aus, «das Leben und seine Sinnhaftigkeit!» Erwartungsfroh setzte er den Stift auf das Blatt Papier. Aber nichts geschah. Er führte die Hand zum Kopf. Diese Pose hatte er bei einem Kunstwerk gesehen, das der Denker hieß. Sie konnte also so falsch nicht sein.
Minutenlang verharrte er regungslos in dieser Stellung. Plötzlich sprang er auf. Wie ein Löwe im Zoo schritt er von einer Ecke des kleinen Balkons zur anderen. Drei große Schritte, umdrehen, wieder drei große Schritte. Das Leben. Er dachte an seine Mutter, der er sich ungefähr so nahe fühlte, wie der Frau aus dem dritten Stock, der er mal die Einkaufstaschen hochgetragen hatte. An den Vater, den er als Siebenjähriger am Seil baumelnd in der Scheune fand. An die Frauen, die er geliebt hatte. Gut, damit war er schnell durch. Neben Renate war da nur die Deutschlehrerin in der Hauptschule gewesen, von der er ein Jahr lang jede Nacht geträumt hatte. Aber ob man in diesem Fall von Liebe sprechen konnte, da war er sich nicht so sicher.
Er dachte an die Arbeit im Baumarkt, wo er tagein, tagaus Fliesen schlichtete, von A nach B transportierte oder einem Kunden ins Auto hob. Herbert blieb stehen. Das Leben und seine Sinnhaftigkeit. Er kaute fester am Kuli. Eigentlich war er, was die Sinnhaftigkeit anging, gar nicht mehr so sicher. «Vielleicht lieber etwas über die Schönheit der Natur», sagte er zu sich selbst, um den dunklen Schleier, der sich über seine Gedanken legte, zu vertreiben. Ja, die Schönheit der Natur! Wie ein braver Schuljunge beim Läuten der Glocke flitzte er zum Sessel und nahm Platz. Inspirationssuchend hob er den Kopf. Er sah geradewegs auf den Betonklotz gegenüber. Wohnung neben Wohnung über Wohnung unter Wohnung. Hie und da ein paar lieblos gepflegte Topfpflanzen auf einem Balkon. Das war nicht unbedingt inspirierend, um über die Schönheit der Natur zu philosophieren. Vielleicht über die Abwesenheit der Natur! Aufgeregt klickte Herbert ein paar Mal mit dem Kugelschreiber – aber nichts geschah.
8.8.88. Ein Schweißtropfen bildete sich auf seiner Stirn. Er biss auf seiner Unterlippe herum.
8.8.88.
«Ach, was soll’s!», rief Herbert schließlich aus, klappte das Notizbuch zu und warf den Kugelschreiber auf den Boden. «Ich probier’s am 9.9.99 nochmal.»
Tina Pfeifer
Geb. 1982, lebt in Wien, schreibt Romane und Kurzgeschichten (u. a. im Podcast LauschLektüre)
Über #kkl HIER
