Judith Wimmer für #kkl55 „Freigeist“
Freie Platzwahl – Eine Session
Lehnsessel, Ohrensessel, Polstersessel.
Als Zeichen von Kultur gilt es, wenn man beim Sitzen korrekte Rechte Winkel einnimmt: Zum einen neige man den Rumpf in den Hüftgelenken um 90° nach vorne, zugleich falte man die Kniekehlen ebenso, jedoch gegenläufig. Auf diese Weise verharre man auf seinem Mobiliar, aufrecht und ohne zu zappeln, hippeln, wetzen, rutschen, wippen oder sonstige ungebührliche Bewegungen auszuführen. Gravitätisch widerstehe man der Gravitation und dem Drang nach Entkrampfung und spinaler Flexibilität.
Ich höre noch die Schelte meiner Mutter, weil ich wieder einmal nicht ordentlich sitze. Weil die Zehen eines meiner Füße Sehnsucht bekommen haben, sich unter das weiche Fleisch des Nachbaroberschenkels zu wühlen, um dort ein wenig Wärme und Geborgenheit abzusaugen, anstatt der Düsternis unter dem Tischtuch ausgeliefert zu sein, und weil mein Knie – anatomisch gar nicht anders möglich bei einem Sessel mit Armlehnen – daher den Blick über die Tischplatte wagt und somit am Abendessen teilnimmt.
Und nicht nur das: Mit meiner jugendlichen Aufsässigkeit habe ich so ziemlich alles leidenschaftlich besessen, besetzt: jeden Winkel des Fußbodens, Truhen, meinen Schreibtisch, Küchenarbeitsplatten, Tische, Sofalehnen, Stufen und auch die Waschmaschine. (Wobei insbesondere der Schleudergang einen nicht unerotischen Kitzel durch das Sitzfleisch vibrieren ließ.)
Zu meiner eigenen Verteidigung muss ich jedoch festhalten, dass ich – ganz wohlerzogenes Kind – durchaus zu unterscheiden wusste zwischen dem Erfordernis, bei gesellschaftlichen Konventionen nötigenfalls mitzuspielen, und dem Verhalten in der eigenen Wohnhöhle, diesem archaischen Zufluchtsort. Zuhause darf man ja im Fellschurz am Lagerfeuer hocken und Mammutknochen abnagen, bis einem das Fett vom Kinn trieft.
Selbst als Teenager habe ich also bei Gastbesuchen, sagen wir im Großen und Ganzen, anständig Platz genommen, verspürte dabei aber immer ein subtiles Unwohlsein, als wäre ich ein festgenadeltes Insekt in einem Schaukasten. Mir bot sich ein schauriger Blick in eine Zukunft, bei der die Metamorphose rückwärts ablaufen würde: als flatternde Schmetterlinge geboren, verpuppen sich die Menschen bei Erreichen des Erwachsenenalters, um die verhärteten Kokons an ihr Sofa zu kleben und dort auf eine Verwandlung zu warten, die nie kommen wird.
Klappstuhl, Leibstuhl, Gebärstuhl
Als Studentin habe ich im Hörsaal regelmäßig zwei Klappsitze gleichzeitig belegt und bin daher de facto immer zwischen den Stühlen gesessen. Eher Leerstuhl als Lehrstuhl also. Im Lotossitz bin ich im Audimax geschwebt, 60 cm über dem Linoleumboden samt Matschabdrücken von Profilsohlen und allerlei Gebrösel. Auf diese Weise bin ich immerhin dem Eindruck einer körperlichen Levitation nahegekommen, wenn schon die geistigen Höhenflüge zumeist ausgeblieben sind.
Mein schwieriges Verhältnis zu klassischem Sitzmobiliar hat sich aber auch später nicht wirklich gebessert. Bei der Stuhlprobe fallen die meisten Stücke durch. Sessel (und Tische) ohne Fußraste zum Beispiel empfinde ich als perfide Gemeinheit von insgeheim sadistischen Designern. Kein Wunder: Wenn einer sitzt, dann tut er das in der Regel nicht freiwillig. Derjenige sitzt nämlich ein und somit seine Zeit ab, im Zuchthaus. Auch in der Schule ist das Nachsitzen das Mittel zur Disziplinierung. So brüte auch ich auf all diesen Sitzmöbeln einer erstarrten Zivilisation und warte, bis die „Strafe“ abgesessen ist und die Arschbacken ihre Freiheit wiedererlangen.
„Der Sitzplatz bezeichnet eine Fläche, die ein Lebewesen am Gesäß sitzend nutzen kann.“
Wie schön! Wikipedia will offenbar nichts davon wissen, dass kultiviertes Sitzen auf extra dafür angefertigten Konstrukten stattzufinden hat, die den Menschen – räumlich und hierarchisch – über den Erdboden erheben und somit zwangsläufig nur zu einer abgehobenen Existenz führen können. Beim Duden hingegen schlagen schon etwas die preußischen Tugenden durch: dort besagt die Definition von ‚Sitzplatz‘, dass es sich „insbesondere um einen Stuhl oder Sessel in einem Zuschauerraum oder Verkehrsmittel“ handelt. Gott schütze Deutschland vor Menschen, die auf dem Boden sitzen! Dabei wäre der tiefergelegte Sitz nur von Vorteil: Denn je tiefer der Schwerpunkt, desto stabiler die Masse, Physik Unterstufe. Sitzt man also auf dem Parkettboden, der Reisstrohmatte oder dem Perserteppich, dann ist man zumindest rein physikalisch auf der sicheren Seite.
Das Gesäß beim Sitzen auf dieselbe Ebene abzusenken wie die Beine respektive Füße, scheint dennoch fast ausschließlich ein Thema für Ethnographen und Anthropologen zu sein – abgesehen von ein paar amerikanischen Fitnessgurus mit besonders ganzheitlichem Sendungsbewusstsein. Floor-Sitting sagt die Wissenschaft dazu. Jene Menschen, deren Anlehnungsbedürfnis vorrangig einer befreundeten Schulter gilt, aber nicht so sehr einer senkrechten Rückenlehne, finden dabei rund 100 Möglichkeiten, die Beine unter oder rund um den Körper zu drapieren, wie uns die akribischen Forscher berichten.
Auch heute noch sitzt rund die Hälfte der Weltbevölkerung auf dem Boden. Die Hadza in Tansania, die Denali in Papua Neuguinea, die vietnamesischen Hmong, die blaubetuchten Berber Marokkos, die Yuwaalaraay im heißen Südosten des australischen Kontinents, in der weiten Tundra Sibiriens die Nenets … All diese Völker rund um den Globus haben bewiesen: sitzen kann man überall und jederzeit, ohne dafür ein künstliches Gestell oder gleich eine Wirbelsäulentherapie zu benötigen. Und nicht einmal die Kalaallit auf Grönland – Robbenpelz sei Dank – hatten Angst, wegen des kalten Bodens Hämorrhoiden zu bekommen.
Fauteuil, Chaiselongue, Kanapee
In Indien, wo es nicht nur viele Menschen und scharfes Essen gibt, sondern auch alte tantrische und hinduistische Weisheiten, besagt die Lehre von den Chakren, dass Energiezentren zwischen dem physischen und dem feinstofflichen Körper existieren. Das Wurzelchakra, Muladhara, ist das erste und wohl wichtigste Chakra. Es liegt dort, wo neues Leben ins Dasein gefickt wird und unsere Mütter uns in die Welt hinausgepresst haben, zwischen Anus und Geschlechtsorganen, also genau dort, worauf wir uns beim Hinsetzen draufsetzen. Das Wurzelchakra soll die Grundlage für unsere Existenz sein und steht in Verbindung mit unseren Ur-Instinkten. Es kann daher wohl nicht gleichgültig sein, wo wir mit diesem kostbaren Kraftmittelpunkt Platz nehmen.
Worin schlagen wir also heute Wurzeln, um unseren Urgrund zu nähren?
In Leimholz, klarlackiert, in Schaumstoff, Kunstleder, Polyesterwebe, waschbar bei 30°, nanobeschichtet, pflegeleicht. Der Körperteil, den wir immerhin den Allerwertesten nennen, den uns ‚Teuersten‘ also, den verpflanzen wir auf Krücken aus Monokulturholz, Formaldehyd und Mikroplastik. Auf den Schleudersitz mit all diesen großindustriellen Ausgeburten! Da helfen die Gütesiegel ach so unabhängiger Experten und die zertifizierte Beratung durch einen Ergonomie-Coach auch nicht weiter. So sehr können diese zweifelhaften Elaborate die Muskeln meiner Lumbalregion gar nicht entlasten, dass ich ihnen eine echte Lebenszuträglichkeit zusprechen möchte.
Bis heute bin ich unentschieden, wem der Platz für den zivilisatorischen Tiefpunkt gebührt: dem elektrisch verstellbaren Fernsehsessel, diesem Heiligen Stuhl der Passivität, oder dem Campingklappstuhl, der geballten Spießigkeit zum Mitnehmen.
Tief verborgen in unseren Körperfasern nistet jedoch mit Sicherheit eine Erinnerung an Urzeiten, als wir noch selbstverständlich eins waren mit der Natur und dafür keinen Adventure-Lehrgang eines Erlebnispädagogen buchen mussten. Da glimmt eine Sehnsucht, deren Flamme von Benimmregeln, aber durchaus auch von Bequemlichkeit erstickt wurde, eine Sehnsucht nach einer Rast auf sonnengewärmten, kristallin gesprenkelten Granitmugeln, auf trockenen Wiesenböschungen, deren Duft nach wildem Thymian uns Appetit macht, oder auf dem zartgrünen Flor von Moospolstern, deren Namen allein schon Poesie sind: Zwerg-Filzmützenmoos, Steifblättriges Frauenhaar, Dunkles Schwarzkopfmoos oder das Schöne Widertonmoos, mit dem allerlei frommer und unfrommer Zauber getrieben wurde. Nach genau diesem Lebenshumus dürsten unsere Wurzeln.
Kelim, Tatami, Zabuton
In unseren Breiten bleibt uns oft jedoch keine andere Wahl, als uns aus klimatischen Gründen in Innenräume zurückziehen. Dennoch wäre es schön, uns den Kontakt zum Boden auch da nicht nehmen zu lassen. Und hier lobe ich mir doch die – zumindest in diesem Punkt gelungene – Emanzipation, die auch den Frauen erlaubt, im sogenannten Schneidersitz Platz zu nehmen und nicht nur mit schamhaft seitlich untergeschlagenen Beinen. Weltanschaulich entlarvend aber ist die Benennung dieser Sitzposition: bei uns mit einem armen Schlucker von mäßigem Renommee konnotiert; in Asien mit der symbolträchtigen Blüte des Lotos, dem Thron der Erleuchteten. (Wenn man extrapoliert, wie hoch der Prozentsatz der Mitteleuropäer ist, die in einem korrekt ausgeführten Lotossitz verharren können, dann sieht es mit der Erleuchtung bei uns wohl ziemlich düster aus.)
Inzwischen bewege ich mich auf die 60 zu und sitze immer noch mühelos und bevorzugt auf dem Erd- oder Fußboden oder im Schneidersitz auf Sesseln. All die Bugholzmöbel, Sitzecken, Stapelstühle, Parkbänke, Sesselkreise und insbesondere all die förmlichen Sitzungen können mir durch die Bank gestohlen bleiben. Die Fähigkeit, sich mit Grandezza auf dem Boden niederzulassen, bedeutet, beweglich zu bleiben und den Blickwinkel zu wechseln – auch geistig. Ich hoffe sehr, meine Hüft- und Kniegelenke bleiben mir auch weiterhin gewogen.
Judith Wimmer, geb. 1968, ist Kunsthistorikerin und lebt im oberösterreichischen Mühlviertel. Ihr Schreiben ist in der Regel auf Fachtexte fokussiert.
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