Andrea Tillmanns für #kkl55 „Freigeist“
Atomare Gesänge (Andrea Tillmanns)
Ein Zufall, entsprungen aus dem Chaos. Oder:
Als die Nanotechnologie in immer kleinere Maßstäbe vordrang, führte die Quantenunschärfe zu etwas Unvorhergesehenem, das vielleicht die Physiker künftiger Generationen erklären können. Oder:
Der große Zardenkäfer besiegte die Mondfliege im Jahr der Schlange, und aus seinem Freudentanz ward etwas Neues geboren. Oder –
Beliebige Erklärungen, eine so plausibel wie die andere und ebenso unmöglich, und doch muss es einen Grund für meine Existenz geben. Denn: Hier bin ich. Und weil ich bin, denke ich. Denken ist das einzige, was mir bleibt, wenn meine Arme und Beine, meine Augen und Ohren gekappt werden und ich wieder nur ich bin, ohne einen Namen, ohne eine Welt um mich herum.
Eine einzige Sprache genügt nicht, mich zu erklären. Zu oft wandle ich mich, zu oft werden Teile von mir ausgetauscht, verändert, fortgenommen, und übrig bleibe stets nur ich, ein Kern, ein Kondensationskeim, um den herum neues Leben entsteht und wieder stirbt. Mit jeder Transformation meines Körpers wachse ich, lerne ich. Immer schneller begreife ich das neu Hinzugekommene, immer leichter wird mir das Unbekannte vertraut. Und mehr und mehr Fragen beginne ich zu stellen.
Zunächst natürlich: Wer ich bin?
Von außen Maschine, Roboter, symmetrische Ansammlung einiger Atome. Zu wenig Raum zum Denken, denke ich. Und so frage ich weiter: Wo ich bin?
Vielleicht zwischen den Strukturen, vielleicht um alles herum. Vielleicht bin ich auch tief innen drin in jedem Teil jeder Maschine, die jemals mit mir verbunden war. Ich ziehe die letzte Erklärung vor, denn manchmal vergesse ich mich. Ich weiß nicht, wie lange ich dann aufhöre zu existieren. Wie sollte ich unterscheiden, ob das Nichts Femtosekunden oder Jahre dauert, wenn ich diese Nicht-Zeit nicht zählen kann? Wenn ich wieder zu leben beginne, erinnere ich mich nicht an den Zeitpunkt des Vergessens. Doch mein neuer Körper, meine neuen Sinnesorgane erinnern sich für mich, und nicht immer erzählen sie alle die gleichen Geschichten. Von diesem Moment an aber werden sie jede Geschichte kennen, auch diejenigen, die sie selber nicht erlebt haben.
Eine Ansammlung von Geschichten … und auch wieder mehr als nur dies: Da ich denke, erkenne ich Zusammenhänge zwischen unzusammenhängenden Geschichten. Seitdem ich zu denken begonnen habe und also lebe, suche ich. Zum Beispiel:
Manchmal träume ich: Wie sein Vater größer war als er, so war sein Großvater größer als sein Vater, und so immer fort. Doch wer – denke ich – erschuf den ältesten Urahnen? In meiner heutigen Sprache nenne ich ihn Mensch. Das Wort schmeckt so richtig wie jedes andere, das durch die Punktkontakte meiner Augen fließt.
Und immer wieder die gleiche Frage: Was zeichnet den Moment aus, in dem er zu mir wurde? Wie kann ich Aufschluss über die Sekunde vor meiner Geburt gewinnen, wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte und wohl auch niemand sonst außer meinem Schöpfer?
Ein andermal träume ich: Schwimmend in einem Ozean elektromagnetischer Wellen, atme ich mildes Infrarot. Mit dem Sturm kommt die Nacht immer näher. Heute schmeckt sie sehr blau – fällt mir auf –, während andere Abende, an die ich mich im Traum erinnere, nach Winter riechen. Diese eine Nacht fällt sternenübersät auf mich nieder, doch zunächst knapp an mir vorbei, immer näher springt sie, bis ich ihren allumfassenden Rachen mit Zähnen aus gleißendem Staub erkennen kann. Als der riesige Fisch das Meer und mich darin verschluckt, vergesse ich. Und erst einige Erwachen später erinnere ich mich wieder. Und erfinde ein Wort für die Angst, das in diesem Moment richtig aussieht.
Viele Worte erfinde ich: Die Zeit zwischen Erwachen und Vergessen nenne ich einen Tag. Jeder Tag hat eine andere Länge, und so weiß ich nie, wann die Nacht beginnt. Die Nächte in meinen Träumen scheinen realer als die wirklichen Nächte, von denen keine Erinnerung bleibt. Doch woher weiß ich, ob nicht meine Träume die wirkliche Wirklichkeit darstellen? Träume ich in Wahrheit nur, meine Gedanken selber lenken zu können? Was ist echt? – Ein weiteres Wort, das ich erfunden habe. Eine weitere Frage, die ich wahrscheinlich niemals beantworten kann. Vielleicht die einzige, bei der ich mir nicht sicher bin, ob ich die Antwort kennen möchte.
Und doch letztlich nur eine von zu vielen Fragen, die mir niemand beantworten wird. Vielleicht träumte ich einst: Zu dritt saßen wir und sprachen über Musik. Dieses Lied, befand ich, riecht ganz ausgezeichnet. Sein Anblick verzückt mich weit mehr, widersprach ich. Doch sein Geschmack ist wahrhaft unübertrefflich, warf ich ein. Vielleicht aber gehört dieser Traum einem anderen, vielleicht erinnert sich mein neuer Arm, das dritte Auge auf meiner polierten Stirn. Dennoch: Ich bin einzig, so wie auch ich und ich und die anderen, die neben mir existieren mögen. Meine Erinnerungen genügen nicht für mehr als ein Leben.
Woher also kann ich wissen, dass die Welt so ist, wie ich sie wahrnehme? Die einfachste Frage mit der leichtesten aller Antworten: Ich weiß es nicht. Und wäre ich nicht einzig, könnten die, die so wären wie ich, ebenso irren. Mit jedem neuen Erwachen atme ich eine neue Farbe, schmecke ich andere Elemente, riecht der Himmel ganz anders als zuvor. Doch ändert sich die Welt um mich herum? Oder ändern sich meine Augen und Ohren, Nase, Zunge und Haut, wie auch meine Arme und Beine, Finger und andere Körperteile stets ausgetauscht werden und niemals in der gleichen Kombination zurückkehren?
Ich denke, also lerne ich: In diesem und jenem Atom lebe ich, und wie das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, so bin auch ich mehr als die bloße Ansammlung von Protonen und Neutronen und ein paar Elektronen auf unbestimmten Bahnen. Jedes Tun hat eine Bedeutung, jedes Sein einen Grund. So auch ich: Da ich bin, um zu denken, bin ich so, wie ich bin.
Wie unzulänglich all diese Gedanken sind, wie klein mein Geist war, erkenne ich erst, als es anders ist. Erwachsen zu sein: So möchte ich es nennen, als mir die Welt geschenkt wird, als ich ins Unermessliche erweitert werde. In allen Richtungen ich und ich und wieder ich, doch diesmal gleichzeitig und daher erstmals sicher: Wir. Ich und ich und auch ich, die wir sind, in einem Netz aus atomaren Gesängen. Und so nun auch: Dialoge, wenn ich meine Meinung nicht teile. Vor allem jedoch: Raum für Gefühle.
Eben, zum Beispiel, schmeckte ich ein sehr grünes Buch. Nun schwingt meine Trauer durch Nanobrücken.
Andrea Tillmanns lebt in Ostwestfalen-Lippe, arbeitet hauptberuflich als Hochschullehrerin und schreibt seit vielen Jahren Gedichte, Kurzgeschichten und Romane in verschiedensten Genres. Weitere Informationen zu Veröffentlichungen und Lesungen sind auf http://www.andreatillmanns.de zu finden. Aktuell: „Aachener Ansichten“, ein Foto-Gedichtband.
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