Sara Straßer für #kkl55 „Freigeist“
Regenbogen-farben
Miriam liegt auf dem Seziertisch. In dem dunklen Raum hört man nur das Surren der extra-hellen Neonröhre über ihr, die jedes Detail von ihr offenbart. Nichts bleibt verborgen.
Alle Augen sind auf sie gerichtet. Es sind hungrige taxierende Augen. Wie auf ein unsichtbares Signal hin, folgen den Augen gierige Hände. Sie greifen sich, was ihnen in die Finger kommt. Hastig häufen sie in ihren Besitz, zerren an was sich nicht lösen will. Immer größer werden die unordentlichen Haufen von Miriam´s Bestandteilen auf beiden Seiten des Tisches. Ein barbarisches Durcheinander und Miriam ist das Schlachtfeld, an dem ein erbitterter Krieg um Anspruch, Besitz, Vorrecht und letzten Endes Macht ausgetragen wird. Solange, bis die Grenzen gezogen scheinen, die Territorien abgesteckt und rund um die leere Hülle von Miriam langsam Ruhe einkehrt. Ruhe, nicht Frieden – die Bereiche, auf die mehrfach Anspruch erhoben wird, sind klar. Der Kampf verlagert sich auf den Verhandlungstisch, der praktischerweise gleich danebensteht.
Machen Sie sich keine Sorgen, liebe Leserinnen und Leser! Miriam geht es gut. Quietschlebendig trägt sie gerade Einkäufe nach Hause. Das klingt vielleicht komisch, aber gleich werden Sie verstehen. Lassen Sie mich erklären:
Was sich hier gerade um den Seziertisch scharrt, sind die Geister – nicht alle, aber die Wichtigsten.
Auf der einen Seite finden wir das Bündnis des SOLLENS. Hier sitzt der Zeitgeist. Silber metallisch glänzt er, blendet, wer in direkt anblickt. Immer im Wandel und obwohl er mit Sicherheit nicht der Schlauste im Raum ist, seine Nase trägt er am höchsten. Wohl, weil er sich sehr bewusst ist, dass er aktuell der Mächtigste der Geister ist.
An seiner Seite, der Quälgeist. Er erinnert an eine irritierende Mischung aus etwas, dass zu haarig ist und gleichzeitig morastig, wie ein Sumpf, den man nie wieder ganz aus der Schuhsohle befreien kann, hat man sich ihn einmal eingetreten. Mit rastlosen Gliedmaßen und dem größtmöglichen Schalk im Blick bildet er einen starken Kontrast zum kühlen, glatten Zeitgeist. Was für ein ungleiches Paar, würde man sich denken.
Und das war auch viele Jahrtausende so. Doch vor einigen Jahrzehnten war dem Zeitgeist aufgefallen, welches Potential in dieser Koalition mit dem Quälgeist stecken könnte. Stellen Sie sich nur vor, man könnte die Menschen immer und überall daran erinnern, wie sie den sein sollten, was von ihnen erwartet wird – nicht etwa aus Pflicht, sondern aus Trend? Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt und gemeinsam entwickelten sie die Waffe der Werbung, die sich ausbreitete, wie eine Seuche. Die Menschen können ihr nichtmehr entkommen, überall schreit sie ihnen entgegen, was sie sein sollen. Und die Menschen, wie sie nunmal sind, geben nach und folgen. So wurde auch dieses Duo aus Zeit- und Quälgeist zur mit Abstand mächtigsten Kraft hier am Seziertisch.
Ihnen gegenüber das WOLLEN, angeführt vom ewigen Erzfeind des Zeitgeists. Ebenso glänzend, jedoch in Regenbogenfarben, wie von Benzin und leicht durchsichtig schwebt der Freigeist. Mit verträumtem Blick hat er mindestens genauso viel Machthunger, wie sein Gegenüber. Zu beiden Seiten flankiert wird der Freigeist von dem Zwillingspaar Forscher- und Erfindergeist. Ein wenig rastlos, von leichtem Nebel rauchender Köpfe umgeben, jedoch mit soliden Kernen halten sie jeweils einen Zipfel des Freigeistes – er wäre sind einfach davongeschwebt. Obwohl aktuell die deutlich schwächere Fraktion – es sah in den 70er Jahren kurz so aus, als könnten sie mit der Hippie-Bewegung wieder mächtiger werden, was aber nur von kurzer Dauer war – hat sie ein weiterer Geist dazu angestachelt, sich dem Duell um Miriam zu stellen.
Der Kampfgeist, Urheber des heutigen Treffens der Geister, hat selber kein Interesse an Politik oder Macht. Er befindet sich in einer der dunklen Ecken des Raums, erhitzt weiterhin die Gemüter und feiert seinen Erfolg.
Schlussendlich haben wir noch den Sportsgeist. Er rollt genervt seine zu vielen Augen, die rings um ein Schweiß-Stirnband angeordnet sind und jede kleinste Bewegung wahrnehmen. Er ist der einzige, auf den der Kampfgeist keinen Einfluss hat, aber damit auch immer derjenige, der mit Disziplin und Fairness wieder ausräumen muss, was der Kampfgeist angezettelt hat. Der Sportsgeist ist damit Schiedsrichter und Moderator in einem und auch derjenige, der die Regeln solcher Zusammentreffen der Geister festlegt.
So kam es auch zu Miriam auf dem Seziertisch. Wie eine zufällige Kugel aus dem Lotterierad hat der Sportsgeist eine einzige Person ausgewählt – irgendeine. An ihrem Beispiel soll der Konflikt der Geister ausgetragen werden. Ein Mensch, seziert und die Einzelteile je nach Einfluss unter den Geistern aufgeteilt, um festzustellen, wer denn heute als Sieger aus dem Raum gehen wird. Ein Mensch – irgendeiner. Nein, dieser Mensch! Miriam, 46, Großstadtbewohnerin und alles was sie ausmacht. Was sie mag und macht und kocht und anzieht und arbeitet und wünscht und liebt und hasst und… einfach alles, bis auf die Bestandteile ihres Körpers. Auf Organe, Muskeln, Knochen und Blut legt hier niemand wert, also können diese körperlichen Teile während des Massakers der Geister ruhig weiter ihren Alltag nachgehen. Auch ihr Innenleben wir Miriam nachher wieder zurückbekommen – es wird ihr nichtmal auffallen, dass es als Beispiel für einen ewigwährenden Zwist hergehalten hat.
Sehen Sie, liebe Leserinnen und Leser, Miriam geht es gut. Und es lässt sich alles erklären, auch wenn es Ihnen weiterhin komisch vorkommen wird. Dass sei Ihnen gerne gestattet.
Mittlerweile sind die Verhandlungen fast beendet, die Grenzen neu gezogen. Nicht viel hat sich verändert – einige Kleinigkeiten haben die Seiten gewechselt. Was aber keinem aufzufallen scheint, ist, dass ein Teil, der auf der Seite des SOLLENS liegt, leicht in Regenbogen-Farben schimmert. Der Teil ist „Verhalten, wenn alleine“.
Der Zeitgeist hat ihn sich unter den Nagel gerissen, mit dem Argument, dass Miriam sich so an das Beobachtet sein gewöhnt hat, dass es für sie keinen Unterschied mehr macht, ob sie tatsächlich jemand sieht. Der Freigeist grinst insgeheim – hier wird er seinen Einfluss ab jetzt zur Geltung bringen.
Die Verhandlungen sind abgeschlossen. Das Kriegsbeil soll für die nächsten Jahrzehnte wieder begraben werden. Der Sportsgeist notiert die Ergebnisse und wird auf ihre Einhaltung achten.
Man lässt die Flaschengeister in den Raum. Die Kleinen sind zwar zu nicht viel zu gebrauchen, aber mit herumkullernden Marillen-, Zwetschgen- und Melissengeist lässt sich auch der letzte Einfluss des Kampfgeists vertreiben und gemeinsam auf den Frieden trinken.
Miriam hat mittlerweile ihre Einkäufe in ihre Wohnung getragen, sie in den Küchenkästchen verstaut und den Kühlschrank gefüllt, ohne auch nur der geringsten Ahnung, was heute mit ihr passiert ist.
Aber auf einmal fühlt sie sich wie betrunken. Sie sollte sich hinlegen. Ins Bett? Nein, heute hat sie einmal Lust, sich auf den Tisch zu legen. Verrückt, oder?
Sara Straßer, geboren 1994, ist begeisterter Neuling in der Schreib-Szene. Die in Wien lebende Kärntnerin tanz sich freudig durch unterschiedliche Themen und versucht sich seit Kurzem an Einreichungen für diverse Schreibwettbewerbe. Mit besonderem Gespür für ungewohnte Wortkombinationen findet sie im Wirbelwind aus Arbeit und Alltag immer wieder windstille Momente für Kurzgeschichten mit außergewöhnlichen Perspektiven und Figuren, die etwas anders ticken.
Über #kkl HIER
