Ingrid Maestrati für #kkl55 „Freigeist“
Ein Reigen seliger Geister
Professor Meyer rauchte seine Zigarette noch zu Ende, bevor er den Hörsaal betrat. Er war beliebt wegen seines Unterrichts
„Das letzte Mal haben wir über Wahrheit gesprochen“, sagte er, „ist irgendetwas hängen geblieben?“
„Dass wir im Westen Wahrheitsapostel sind“, rief Charly, „eine einzige, absolute Wahrheit und damit basta“.
Raschelnde Blätter, leises Raunen im Saal. Herr Meyer holte seine Notizen aus der Tasche. Er wartete auf weitere Antworten.
„Tja, wir brauchen übergreifende Wahrheiten, um zu existieren und keine Leithammel wie bei den Schafen, die ihnen blind nachlaufen.“ Klara hatte es halblaut geäußert und atmete tief, bevor sie weiterfuhr. „Moderne Leithammel verstecken sich hinter allgemeinen Ideen, spielen sich auf wie Propheten und dulden keinen Widerspruch.“
„Und so war es immer, nur die Geister waren verschieden“. Leo wartete auf Beifall. Niemand antwortete, also redete er weiter. „Der Teufel war ein böser Geist und die Engel – einfältige und pure himmlische Wesen – zwitscherten herum.“
Der Professor grinste und viele lachten im Saal. So langsam kam Stimmung auf.
„Und da gab es bereits Hierarchien – Erzengel, Racheengel und Schutzengel“. Hansi war ganz aufgeregt. „Engel hatten Missionen, keine eigenen Ideen.“
„Gibt es typische Konstanten in dieser Aufstellung?“, fragte der Professor.
„Das Irrationale“, hauchte Mary, „über die Realität hinausdenken, selbst wenn es hinten und vorne nicht stimmt.“
„Überhaupt nicht denken“, scherzte Charly, „weiter dackeln. Wer früher einen Zentimeter neben der offiziellen Linie stand, wurde verteufelt“.
War der Teufel ein Freigeist?“, fragte Harry. „Nein, das war eine theoretische Konstruktion: das absolute Böse und Gott als das absolute Gute. Die Menschen verglichen sich in beide Richtungen“.
„Aber der Teufel war doch eine Person“, wagte Mary zu antworten, „ein Abtrünniger, ein Verführer. Menschen konnten werden wie er.“
„Und der persönliche Gott wurde zur Vaterfigur“, konterte Harry. Mit Figurationen konnten selbst kleine Geister mehr anfangen als mit abstrakten Grenzbegriffen“.
Dutzende von Scholastikern hatten sich den Kopf zerbrochen, wie Gott so etwas Abscheuliches wie den Teufel erschaffen konnte, weil es nur eine einzige Wahrheit gab.
„Das einfältige Pure hat nie existiert“, nahm der Professor den Faden wieder auf. „Die Menschen sind denkende Wesen. Um denken zu können, brauchen wir Zweifel und Stolpersteine und da wurden Freidenker oft zu Erfindern oder Wissenschaftlern, von der Inquisition verfolgt. Und dann kam Hegel und redete vom Weltgeist. Fällt euch dazu etwas ein?
„Keiner hat ihn je gesehen“, rief Hansi, „glaubt jemand daran?“
Einige Studenten hoben die Hand, aber Charly hatte bereits das Wort ergriffen: „Der Weltgeist war ein Sammelbegriff. Eine Wahrheit bahnte sich ihren Weg, bis langsam alle daran glaubten und die Mehrheit und wurde zu Wahrheit.“
„Aber er konnte sich ändern“, rief Leo dazwischen, „von Generation zu Generation und daraus entstanden geschichtliche Folgen von Zeitgeist. Traditionen entwickeln sich weiter.“
„Und die Freigeister?“, fragte der Professor.
„Skurrile Käuze, die keiner mochte“, ließ Klara verlauten, „aber sie hatten oft recht und wurden später anerkannt“.
„Und heutzutage?“, reizte er.
„Heute werden online fix und fertige Ideen geliefert“. Harry kannte sich aus. „Man kann sie aussuchen“.
„Täusch dich nicht, du Idealist“. Mary geriet in Fahrt. „Du wirst hofiert und verdummt und glaubst, Urheber untergeschobener Ideen zu sein.“
Der Professor erinnerte daran, dass es früher nicht selbstverständlich war, seine Meinung frei zu äußern, aber es gab soziale Orte der Integration – Berufsgilden, Bauern etc. Er erwähnte den Positivismus des 18. Jahrhunderts, wo im Zuge der Kolonisation menschliche Zoos gegründet wurden. Sogenannte „Primitive“ wurden zusammen mit Tieren ausgestellt. Körperliche Fehlbildungen wurden zu Zeichen ihrer Monstrosität. Alterität wurde anormal. Hagenbeck glänzte 1931 mit zwei letzten Spektakeln in Paris, mit einer Truppe von „Kanaken“ und „Tcherkessen“.[1]
„Der weiße Mann definierte sich als Kultobjekt für geistige und kulturelle Überlegenheit. Und wir haben an diesen Rassismus geglaubt. Warum eigentlich?“ fragte Charly.
„Solange wir andere gesehen haben, denen es schlechter ging, haben wir uns mit unserem Los abgefunden.“ Hansi dachte an das starre Kastensystem in Indien.
„Früher lebten Weise und Propheten am Rande der Gesellschaft, wurden verlacht oder verfolgt und ohne es zu merken, machten sie Politik,“ erklärte Harry. „Wenn die Anhänger zunahmen, entstanden neue Machtgefälle. Fremdgeister sind Außenseiter, wie auch Künstler, die „die sich sträubende Karre der Menschheit mit sich immer vor- und aufwärts ziehen.“[2] Eine Aufwärtsbewegung der Kultur, wenn sie Vorbilder wurden.
Alles war anders geworden. Leo fasste es kurz zusammen. Der technische Fortschritt ließ neue Lebensstile entstehen mit gutverdienenden Klassen und wachsender Unzufriedenheit ausgeschlossener Gruppen – ein sozialer Abstieg. Und dann der Kampf der Zeitgeister, organisiert über anonyme Gruppen – Echokammern – die sich täglich Schlammschlachten liefern in den Medien. Die Bilanz: Soziale Zerrissenheit und Lebensangst. Influencer und schräge Apostel scharen Mengen uniformierter Schafe hinter sich.
Herr Meyer ging noch etwas weiter: „Verrohung, Raubbau der Natur und geistige Verwahrlosung sind Zeichen kultureller Regression, selbst wenn die Technik Riesenschritte macht“.
„Und das Schlimmste:“, Mary sprach es langsam aus, „Du fühlst dich persönlich angesprochen im Internet – wie in der Kunst. Diese regt zum Nachdenken an und schafft Freiräume, während das online Marketing nur Mainstreams erfasst, und alle glauben, absolute Wahrheiten zu besitzen.“
„Absolutheit ist ein Universalbegriff“, warf der Professor ein „und das würde bedeuten, dass eine einzige Idee alle anderen überragt.“
„Und wenn es mehrere absolute Wahrheiten gibt, was dann?“ Klara rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum.
„Dann gibt es Gegensätze, auf die wir uns einlassen müssen – oder Gewalt und Krieg“, antwortete der Professor.
„Warum müssen wir alles auf eine einzige Formel bringen? Und genau das passiert doch bei unseren Mathematikern: Naturgesetze, Algorithmen, Künstliche Intelligenz – Alles läuft über festgelegte Normen, keiner versteht sie, Milliardäre verdienen gut dabei und Autokraten wollen sich damit profilieren.“ Charly erntete Beifall.
„Aber soziale Beziehungen sind doch anders. Verantwortung und soziale Reife sind nicht pur mathematisch.“ Klara hatte laut gedacht und viele stimmten ihr zu.
Der Professor fasste zusammen:
„Wir sind mitten in einer babylonischen Sprachverwirrung, schirmen uns ab in verkümmerten Jargons und reden nicht mehr miteinander. Unsere Gehirne verwilderten dabei. Lieblose Erfolgsideen machten aus Brutalität eine Tugend und Empathie wurde zu einer unverzeihlichen Schwäche.
Aber gleichzeitig sind wir doch liebe kleine Schäfchen, die gestreichelt werden wollen. Werbung und Shopping als Liebesersatz funktionieren prächtig, aber nicht alle können sich alles leisten.
„Wir fordern Gleichheit“, rufen sie – Konsumgleichheit unter Ausschluss aller Migranten, die noch an unsere alten Werte universaler Brüderlichkeit glauben. Neue Fremde haben die früheren ersetzt.
Und die kleinen Schäfchen laufen dem größten Bock hinterher. Jetzt, wo die Intelligenz künstlich geworden ist, kommt es auf unsere nicht mehr an. Maschinen können es besser, sie lassen sich auf keine Diskussion ein – wie unsere Autokraten. Und wir duckmäusern hinterher.“
Alle packten ihre Sachen zusammen, der Kurs war beendet.
[1] N. Bancel, P. Blanchard, G. Boetsch, E. Deroo, S. Lemaire:
Zoos Humains – Au temps des exhibitions humaines, La Découverte, Paris 2002, Seite 7, 9, 12
[2] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Benteli Verlag Salensteil, 2024/C 1952, Seite 31

Ingrid Maestrati
Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen:
Arbeit im Tourismus/Weltreisen,
Auslandsaufenthalte in Myanmar, Paris und Griechenland,
Studium: Philosophie und Psychologie in Paris, PhD Sorbonne
Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten,
Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen ISBN 978-3-03883-084-9, 2019,
Regelmäßige Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften
Über #kkl HIER
