Claudia Brannekemper für #kkl56 „Und dann kam…“
Tag der Entscheidung
Er steht für einen Moment reglos auf der letzten Bodenplatte, das ihn von der Treppe trennt, eine Schwinge des Adlerwappens unter den Füßen, reglos mehr innerlich, denn im Pulk seiner Mannschaft drängt es ihn unweigerlich abwärts. Hinter ihm das jetzt noch gedämpfte Licht der Mixed Zone, es greift nach ihm wie die tastende Hand seiner Mutter noch vor wenigen Jahren. Der letzte Schritt und dann die unfassbar grellen Scheinwerfer des Flutlichts. War das auch schon so, als er noch in der Kurve stand, die jetzt die letzten Ausrichtungen am Banner vornimmt und in ihren schwarzen und grünen Umhängen einem dunklen, schattigkühlen Wald gleicht? Die Kurve, seine Heimat – heute alle Augen auf ihm. Wie durch Noise Canceling, das nur ungenügend funktioniert, hört er die Anweisungen des Capo für die erste Anfeuerungswelle. Oder eigentlich hört er sie nicht, doch zu vertraut sind ihm die Abläufe, als dass er die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen bringen könnte. Dabei verwehrt ihm der gleißende Scheinwerfer des TV-Teams jeden klaren Blick nach rechts. Sind Kameras nicht hochauflösend und lichtempfindlich? Warum wird das Flutlicht von ihnen in den Schatten gestellt? Zwei Minuten bis Anpfiff zeigt der Blick nach links auf die Leuchtdioden, rechts wird es dunkel, der Geschäftsführer Sport verlässt die große Bühne, verschwindet im Schatten der Trainerbank. Trainerbank? Ersatzbank? Der Trainer sitzt weiter vorn auf einem Stuhl, im besten Falle sitzt er, meist läuft er tigergleich im Gehege, das für ihn vorgesehen ist – im besten Fall nur dort. Das gnadenlose Licht und die Kameras werden wieder jede Regung, jedes ungestüme Verhalten ausleuchten und analysieren. Den Rasen betreten, vorher noch die tastende Hand eines Einlaufkindes ergreifen. Die Gegengerade liegt im Dunkeln, vor allem die hinten Stehenden werden vom Dach vor dem Licht bewahrt, Schutzraum für die übelsten Pöbler. Aus dem bergenden Schatten werden schnell die Pfiffe und Beschimpfungen kommen, spätestens wenn zum vierten Mal etwas misslingt. Winken, umdrehen zur Tribüne, Gesichter nicht auszumachen, doch irgendwo da sind seine Eltern, ist die Hand seiner Mutter. Und in der Kurve seine Kumpel – 24/7 – egal, wohin du gehst, wir werden immer zu dir stehn – la-la-la-la-la-la-la-la. Gegenspieler und Schiedsrichter abklatschen. Heute – heute ist der Tag, der über Licht und Schatten entscheidet, über bundesweite Aufmerksamkeit oder Versenkung, Toben oder Tränen, Ruhm oder Schande. Und plötzlich Stille auf den Rängen, der Support eingestellt, Anteilnahme aus beiden Fanlagern. Ordner bilden eine Schutzwand, die die verzweifelte Arbeit der Sanitäter erahnen lässt. Martinshorn auf der Straße, Blaulicht oben auf dem Wall hinter den Rängen. Ein Schrei von Simon „Jetzt!“ Er spürt den exakten Diagonalpass mehr als er ihn sieht, hundertmal einstudiert, und keiner ist so auf ihn eingestimmt wie Simon. Blitze im Hirn, Explosionen im Ohr, die Jungs auf ihm liegend. Das Menschenknäuel entwirrt sich, springt über die Werbebande in die Kurve und verharrt. Nichts. Keine Fahnen, kein Jubel. Das Blaulicht ist erloschen.
Heute ist der Tag, der entscheidet.

Claudia Brannekemper, Jahrgang 1963, Freie Trauerrednerin, verheiratet, vier Kinder, zwei Enkelinnen, gelernte Bankkauffrau, Bachelor im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft.
Ich schreibe zusätzlich zu meiner Arbeit seit vielen Jahren im Rahmen von Schreibwerkstätten und arbeite zurzeit an meinem ersten Roman. Neben der Literatur gehört meine größte Leidenschaft dem Fußball, von Erlebnissen im Stadion ist der Text inspiriert.
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