Gabriele Schuster für #kkl56 „Und dann kam…“
Abi 68

Meine geliebte Mutter – liebenswürdig, originell und chaotisch. Dass diese Frau jemals einen Zug bekommen hat oder einen wichtigen Termin pünktlich wahrgenommen hat, kann man nicht glauben. Jedenfalls nicht, wenn man mit ihr zusammen gelebt hat. Sie hat es trotz allem oder vielleicht gerade deswegen geschafft, 90 Jahre alt zu werden.
Ich bin ihr mein Leben lang dankbar gewesen, dass sie trotz ihrer spärlichen finanziellen Mitteln mir die Möglichkeit gegeben hatte das Gymnasium zu besuchen. Das war 1960 für ein Mädchen aus „einfachen“ Verhältnissen nicht unbedingt üblich.
Sie war immer stolz auf mich. Sie hat sich über gute und mittelmäßige Noten gefreut, und sie hat mich getröstet, wenn dieselben mal nicht so gut waren. Noten waren ihr eigentlich gar nicht so wichtig. Wichtig war, dass ihre Tochter das Abitur schaffen würde.
Und ich hatte es geschafft, zwar nicht glanzvoll, aber eines Tages hielt ich dieses Dokument in den Händen : Das Abitur ! Ohne eine Ehrenrunde gedreht zu haben.
Diesem Event folgten natürlich auch damals schon der Abiball und lustige Abifeten, allerdings nicht so ausufernd wie das heute zu Tage üblich ist. Das Wichtigste aber war die feierliche Verabschiedung in der Aula, zu der die Eltern und auch die Großeltern, kurz alle, die auf den erfolgreichen Abschluss der Kinder stolz waren, geladen waren. Die Betonung lag auf feierlich-und feierlich bedeutete in einem feierlichen Rahmen. Diesen Rahmen bildete die Aula. Ein großer Saal mit hohen Decken, der bei Veranstaltungen ganze Schulklassen fassen musste. Eichenparkettfußboden, auf dem hölzernen Klappstühle standen, nicht gerade bequem, dafür konnte man auf ihnen auch nicht einschlafen. Stillsitzen musste man leider auch, denn ein Hin-und Herrücken würde knarrende, störende Töne verursachen. Dieser Parkettfußboden war immer gebohnert und Glanz gerieben, und man musste sich vorsichtig darauf bewegen, um nicht auszurutschen. Unangemessene Bewegungsaktivitäten waren also gar nicht möglich. Die Gegebenheiten erforderten ein gewissen Maß an gesittetem Verhalten, eben der Bedeutung dieses Raumes entsprechend. Die hohen, hellen Fenster hatten schwere Samtvorhänge. Alles wirklich sehr gediegen. Betreten wurde die Aula durch eine Decken hohe, schwere Eichenholztür, die zusammen gefaltet werden konnte. Obwohl dieser Raum schon viele Jahre auf dem Buckel hatte, und die Tür Kerben im Parkett hinterlassen hatte, schrabbte sie immer noch über den Holzboden und gab dabei leicht knirschende Geräusche von sich.
Wir standen so gegen halb 10 im Flur vor der Aula… die Abiturienten, die Lehrer und die Mütter und Väter und so manche Großmutter. 10 Uhr sollten die Feierlichkeiten beginnen.
Und natürlich hatten wir Mädchen „feine“ Kleider an und die Jungs trugen Anzug. Es war Viertel vor 10, und man begab sich in die Aula. Ich sah mich suchend um. Meine Mutter war immer noch nicht zu sehen. Ob sie den Eingang zur Schule nicht gefunden hatte? Mama war immer so „verpeilt“, wie man heute sagen würde. Ich lief die Treppe nach unten und blickte über den Schulhof. Niemand zu sehen. Ob sie schon oben gewesen war, und ich hatte sie einfach in der Menge übersehen? Mama war nämlich von relativ kleiner Körpergröße. Hätte ja sein können. Ich sprintete nach oben. Der Raum vor der Aula war menschenleer, die Tür stand noch einen kleinen Spalt breit offen. Leise schob ich sie zur Seite. Die Anwesenden hatten sich schon gesetzt. Das Geplauder war verstummt. Von meiner Mutter keine Spur. Ich spürte, wie Ärger in mir hoch kam, aber auch Angst. Ob ihr etwas zugestoßen war? Diese Veranstaltung war so wichtig für sie. Für diesen Moment hatte sie in den ersten Jahren noch Schulgeld bezahlt, Geld, was sie sich vom Haushaltsgeld abgeknappst hatte, und sie hatte meinetwegen auf so manches verzichtet. Es konnte einfach nicht sein, dass sie diesen Termin vergessen hatte. Meine Freundin Gisela hatte in der vierten Reihe zwei Plätze frei gehalten. Der Hausmeister schob mich in den Raum und schloss die Tür.
Am Kopf der Aula, gleich neben der Eingangstür, befand sich eine Bühne, auf der Theatervorstellungen und Konzerte statt fanden. Heute hatte sich zu unserer Ehre das kleine Schulorchester unter der Leitung des Musiklehrers Herrn Kiesel dort eingefunden.
Der Schuldirektor trat vor die Bühne. Stille im Saal. Er hielt nur eine kurze, aber zu Herzen gehende Rede. Eine Rede über das, was wir, seine Schüler, erreicht hatten, und dass er uns für unser Berufsleben alles Gute wünsche, etc, etc, … das , was man in solchen Momenten eben so sagt. Manchen Angehörigen standen Tränen in den Augen. Ach, was hätte meine Mutter sich gefreut!
Dann trat der Musiklehrer nach vorne, wandte uns den Rücken zu und hob den Taktstock:
Mozarts Klavierkonzert C-Dur. Die Klänge von Klavier, Geige, Cello und Klarinette erfüllten die Aula, die eine fantastische Akustik hatte. Diese Akustik wurde jedoch durch einen schrägen Misston gestört. Die große, schwere Tür der Aula öffnete sich einen Spalt breit, wobei sie über den Boden kratzte. Die Akustik des Raumes leitete das Geräusch weiter. Einen Moment blieb die Tür stehen, um sich aber dann weiter zu öffnen. Erst erschien eine Hand, dann der Kopf meiner Mutter, und dann quetschte sie sich mühevoll durch den Türspalt. Alle alle blickten Richtung Tür, manche verärgert, andere belustigt, der Musiklehrer irritiert. Da wagte es jemand, ihn in Ausübung der höchste der Künste zu stören. Er ließ den Taktstock sinken. Die Musik erstarb. Meine Mutter, in einem lilafarbenen, schimmernden Kleid und sorgfältig hoch toupierten Haaren, sah sich suchend um.
Ich wollte vor Scham im Boden versinken. Ich stand nicht von meinem Platz auf, sondern winkte meiner Mutter hastig zu. Sie sah mich und huschte auf mich zu. Stühle wurden geräuschvoll hin und her geschoben, denn 5 Personen mussten sich erheben, um meine Mutter zu ihrem Platz durchzulassen. Mama setzte sich ganz leise auf den Stuhl, atmete erleichtert aus und strahlte mich an: “Gerade noch geschafft!“
Der Musiklehrer erhob erneut den Taktstock.

Dr. Gabriele Schuster
Jahrgang 1950, nach dem Abitur zwei Jahre Schiffsstewardess auf Großer Fahrt, mehrere Semester Ethnologie, Altamerikanistik und Archäologie, dann Studium der Veterinärmedizin an der FU Berlin, 1984 eigene Kleintierpraxis, verwitwet, zwei Söhne, Ruhestand seit Sommer 2018.
Hobbys:Schreiben, Malen (Tierbilder in Acryl)
Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften, ein eigenes Buch über BoD
Über #kkl HIER
