Thomas Schneider für #kkl56 „Und dann kam…“
DER EICHELHÄHER
Um die blauweiss gestreiften Flügel zu konservieren
hätten wir sie sonst vom Rumpf trennen
und monatelang in Boraxpulver packen müssen
Heute begrub ich zum ersten Mal in meinem Leben
ein Lebewesen – den Eichelhäher
den du gestern vor dem Haus gefunden hattest
mit einem klaffenden Loch im Scheitel
wahrscheinlich herrührend
von einem Schnabelhieb beim Luftkampf
mit einem Bussard oder anderen Raubvogel
Die Wunde augenscheinlich zu tief
um von einem Revierkampf
mit einem nahezu gleich starken Rivalen
zu stammen
Ich kletterte im nahen Wald
jenseits der Brücke über den Bergbach
durchs Unterholz einen Hügel hoch
als eine Brombeerranke durch die Hose
einen Dorn in mein Schienbein bohrte
Es gelang mir nicht ihn zu entfernen
Er hat sich inzwischen unter der Haut
festgesetzt und abgekapselt
Mühevoll durchstiess ich oben auf der Kuppe
mit der Schaufel ein paar dünne Wurzeln
am Fuss der höchsten Tanne im Geviert
Die Grube war knapp fusshoch
eher eine Schatulle aus Erdkrumen
in die ich den eleganten steifen Körper bettete
Aber mit einer Handvoll Herbstlaub darüber
stach das unscheinbare Grab nicht mehr
von der Umgebung ab
nachdem ich die vorher weggeräumte Erde
festgetreten hatte
An einer anderen Tanne
ganz in der Nähe unseres Hauses
flatterte schon den ganzen Nachmittag
ein zweiter Eichelhäher von Ast zu Ast
krächzte beschwörend klagte und fiepste
die Partnerin oder der Partner des getöteten Vogels
Miit Sicherheit vermochten wir sein Geschlecht
nicht auszumachen
Die Zartheit und Trauer in den verschwebenden Tönen
die den Singsang der anderen Vögel
in der Abenddämmerung brachen
wiesen auf ein Weibchen
Thomas Schneider, geboren 1951, Hausarzt im Teilruhestand. Letzte Veröffentlichungen in kkl (dreimal 2024), Das Gedicht Nr. 31 und 32 (2023/24), Die Brache Nr. 9 (2025)
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