Laura Sophie Stölzl für #kkl56 „Und dann kam…“
Der König von Norwegen
Tante Renate war eigentlich nicht Philipps Tante, sondern seine Großtante. Sie hatte selbst keine Kinder, suchte aber gerne die Gesellschaft von Philipps Mutter, ihrer Nichte. „Tante Renate“ oder einfach „die Tante“ war ihr Titel. Die Tante war hochgewachsen und schlank, roch nach Orangenblüten, trug Kaschmir und es hieß, sie sei einmal eine große Schönheit gewesen. Philipp hatte die vage Assoziation, dass das mit gelegentlichen Engagements als Model einhergegangen war, als Models noch Mannequins hießen, war sich aber nicht sicher, ob das stimmte. Nachweislich hatte Renate früher als Fremdsprachensekretärin gearbeitet.
Als Philipp ein Kind war, spielten die Tante und Philipps Mutter oft Streitpatience. Dabei rauchten und stritten sie, denn bei Streitpatiencen konnte man sich viel gegenseitig übelnehmen. Philipp beobachtete manchmal die Partie. Dann machte er die Spielerinnen auf übersehene Chancen aufmerksam, wenn ihm welche auffielen. Die Tante war darüber ungehalten, sogar dann, wenn der Hinweis ihr nützte. Sie hatte nämlich nicht nur keine Kinder, sie mochte auch keine. Irreguläre Spielzüge wurden durch Klopfen auf den Tisch geahndet. Die Tante klopfte mit genussvoller Aggressivität, gerne auch schon, wenn sich die Hand der Mutter der verbotenen Karte nur näherte, und so laut, dass die Aschenbecher schepperten und Philipp und die Mutter erschrocken zusammenfuhren. Das Spiel selbst war unbeschreiblich öde. Ganze 104 Karten mussten in acht aufsteigende Dreizehner-Reihen gebracht werden, schwarz und rot alternierend vom Ass bis zum König, und es war vollkommene Glückssache, wie stark dies durch die Mischung der Kartendecks ausgebremst wurde. Mit der Tante allerdings wurde jede Partie zum Thriller.
Als Philipp erwachsen, die Mutter nicht mehr jung und die Tante älter war, zog Letztere in eine Wohnanlage für Senioren. Dort gab es im Erdgeschoss einen tagsüber besetzten Concierge-Tresen, und man konnte, je nach Bedarf, Leistungen hinzubuchen: Mahlzeiten, Wäscheservice, sogar einen Notfallknopf. Auch gab es an mehreren Wochentagen im Gemeinschaftsraum Angebote zur musischen oder geistigen Anregung, zum Beispiel Singen oder Häkeln. Die Wohnanlage lag in der Nähe der Arbeitsstelle von Philipps Mutter, die jede Woche einige Male auf dem Hin- oder Rückweg vorbeischaute. Für die Wochenenden bat die Mutter Philipp, der inzwischen in einer anderen Stadt wohnte, die Tante regelmäßig anzurufen. Philipp erschien das fair, und so wurde es ihm zur Gewohnheit, Samstagvormittag, wenn er nach seiner Joggingrunde beim Cooldown noch etwas durch die Straßen spazierte, das Headset aufzusetzen und mit der Tante zu plaudern. Diese Telefonate dauerten oft eine Dreiviertelstunde oder länger, und Philipp merkte, dass er sie ziemlich gern führte. Er musste nur aufpassen, dass er der Tante immer unterschiedliche Stichwörter zuspielte. Aufgrund der jeweils ähnlichen Telefoniersituation – Wochenende, Spazierengehen – fühlte sie sich nämlich an bestimmte Geschichten immer wieder erinnert. Zum Beispiel die, wie früher die Wohnstraße der Tante immer voller Hundehaufen gewesen sei. Die Geschichte hatte drei Teile, erstens: Tante stellt eine Hundebesitzerin vor ihrer Tür zur Rede, und die ist ganz empört, dass immer die Falschen verdächtigt würden, denn sie habe ihr Tütchen sehr wohl dabei. Zweitens: Die Tante errichtet ein entsprechendes Schild, und die Nachbarn, die sonst gar nicht so nett waren, solidarisieren sich ausdrücklich mit ihr. Drittens, die moralische Bewertung: Einen Hund vor eine Tür machen zu lassen, das sei als Geste doch gleichbedeutend damit, dass der Mensch selber da hinmache. Wo sei der Unterschied? Die Tante forderte durch Tonfall und Kunstpausen, dass Philipp in ihre Empörung einstimmen sollte. Aber Philipp wollte sich nicht länger als nötig mit der Thematik befassen. Manchmal versuchte er sie zu stoppen, doch wenn Teil 1 einmal angerollt war, folgten unaufhaltsam auch Teil 2 und Teil 3. Wenn die Tante eine Weile erzählt hatte, erkundigte sie sich: „Und, wie geht’s Euch?“ und überspielte mit der vagen Formulierung der Adressaten, dass sie nicht wusste, ob und wenn ja, mit wem Philipp in häuslicher Gemeinschaft lebte. Philipp bemühte sich nun seinerseits, für erfreuliche Inhalte aus seinem Leben aufzukommen.
Eines Morgens, als Philipp anrief, beschwerte sich die Tante, dass er gerade ein anderes Gespräch unterbrochen habe. Mit Harald. Harald dem Fünften, dem König von Norwegen. Der hatte Renate sein Herz ausgeschüttet, weil schon wieder ein Skandal mit seinem missratenen Stiefenkel Marius in der Presse breitgetreten wurde. Beziehungsweise, zuerst hatte Renate einfach gemerkt, dass er bedrückt war, und er hatte sich den Grund ziemlich aus der Nase ziehen lassen. Hauptsächlich sei Harald der Fünfte nämlich ein ausgezeichneter Zuhörer. „Und, wie geht’s Euch?“ Zu Hause googelte Philipp, ob vor einer Monarchen-Variante des Enkeltricks gewarnt wurde, fand aber nichts. Er besprach es mit seiner Mutter, die bei nächster Gelegenheit das Telefon der Tante für alle unbekannten Nummern sperrte. Vorsichtshalber fragte Philipp am nächsten Samstag nach, ob das norwegische Königshaus sich aufgrund von finanziellen Engpässen an Renate gewandt hatte, aber das sagte ihr nichts. In letzter Zeit habe Harald sie ehrlich gesagt ein bisschen gelangweilt mit seinen Erzählungen vom Segeln, was so ziemlich sein einziges Hobby zu sein schien. Raus aus dem Fjord, rein in den Fjord, und meine Güte, die haben da eine Menge Fjorde. Renate habe dann das Telefon auf Lautsprecher gestellt und auf dem Bildschirm Patience gespielt, um die Zeit herumzukriegen. „Und, wie geht’s Euch?“ Philipp erzählte, dass er mit seiner Freundin für den Sommerurlaub einen Segelkurs auf der Müritz gebucht hatte, aber die Tante wollte nicht schon wieder was vom Segeln hören, und außerdem musste sie ihr Telefon laden.
Ostern wollten sie mit der Tante zusammen bei Philipps Mutter feiern. Beim samstäglichen Telefonat am Tag vor Palmsonntag war die Tante ungewöhnlich mürrisch. Sie habe keine Lust, für das gemeinsame Osterfest einzukaufen, außerdem müsse sie dafür Auto fahren, und sie führe nicht mehr so gerne in letzter Zeit. Philipp überging taktvoll die Tatsache, dass die Tante seit mindestens zehn Jahren nicht mehr Auto fuhr, und versicherte nur, die Tante müsse nichts einkaufen, er würde sie abholen und zur Mutter fahren und die würde das Essen vorbereiten. „Ja, das ist gut. Macht das mal. Und, wie geht’s Euch?“ Die Tante machte sich auch Sorgen wegen Harald des Fünften. Er hatte eine Herz-OP gehabt. Einen Vorteil hatte das aber immerhin: er war deswegen nicht in den traditionellen Osterurlaub auf seine Berghütte gefahren, sondern in Oslo geblieben, von wo er besser mit Renate telefonieren konnte. Renate fürchtete, die Sache mit Märtha Louise habe ihm das Herz gebrochen. So peinlich. Aber sie sprach ihn nicht drauf an. Lieber heiterte sie ihn mit Geschichten aus dem Singekreis der Senioren-Wohnanlage auf, da habe Harald herzlich drüber lachen können. Übrigens habe sie keine Lust, die ganzen Einkäufe für das Osterfest zu machen, und führe auch nicht mehr so gerne Auto. Philipp versicherte, dass Renate nichts einkaufen müsse, und entschuldigte sich, dass er jetzt nicht mehr weiter telefonieren und erzählen könnte, wie es ihm und seiner Freundin ginge.
Am Morgen des Ostersonntags parkte Philipp sein Auto vor der Senioren-Wohnanlage. Seine Freundin blieb im Auto, sie wollte noch etwas telefonieren. Philipp trat durch die automatische Glastür ins Foyer und an den Concierge-Tresen aus Birkenfurnier. Der Concierge, ein Mann im Rentenalter, legte die „Bunte“ beiseite, in der er gerade geschmökert hatte, und schaute Philipp über die Ränder seiner Lesebrille an. „Guten Morgen, ich hole Renate ab.“ Philipps Blick fiel auf den Namen, der auf einem wie ein längliches Spitzdach geformten Metallschild zu lesen war: H. König. „Ah, Sie telefonieren öfter mit meiner Tante, oder? Das ist ja nett. Sie erzählt mir immer viel von Ihnen.“ Ja, Herr König telefonierte oft mit Renate, er mochte sie gerne. Philipp wunderte sich, dass seine Mutter das Rätsel um den König von Norwegen nicht selbst gelöst hatte, da sie ja mehrmals die Woche vor Ort war. Er plauderte noch ein wenig mit Herrn König und brachte in Erfahrung, dass dieser Philipps Mutter nie getroffen hatte, da er nur am Wochenende seine Rente mit diesem Pförtnerjob aufbesserte.
Am Samstag nach Ostern war Renate verärgert, dass man ihr die ganzen Einkäufe für das gemeinsame Osterfrühstück aufbrummte, obwohl sie doch nicht mehr so gerne Auto fuhr. Die Mitteilung, dass Ostern bereits vorbei und sehr schön gewesen sei, besänftigte sie jeweils nur für wenige Minuten. Mit dem König von Norwegen gab es auch eine gewissen Verstimmung, weil Renate von ihm verlangt hatte, dass er sich endlich von Märtha Louise öffentlich abgrenzen müsse. Schön und gut, dass Harald gesagt hatte, die Norweger „glaubten an Gott, Allah, alles und nichts“, aber bei dem Hokuspokus, den Haralds neuer Schamanen-Schwiegersohn veranstalte, müsse Schluss sein. Wer offen für alles ist, kann nicht ganz dicht sein. Da war Harald zum ersten Mal, seit sie sich kannten, laut geworden, aber wenn er dachte, dass er Renate damit einschüchtern konnte, hatte er sich getäuscht. Am Ende hatten sie sich wieder halbwegs vertragen. Im Grunde gab Harald Renate recht, insbesondere, dass Märtha Louise keine Steuergelder mehr für ihr Privatleben verwenden sollte. Apropos Geld ausgeben, habe Renate keine Lust, die ganzen Ostereinkäufe alleine zu machen. Sie wisse auch gar nicht, ob ihr Auto noch funktioniere.
Das war Philipps letztes Telefonat mit Tante Renate. Wenige Tage später bekam sie eine Gehirnblutung. Der Amtsarzt versicherte, dass sie nicht gelitten hatte. Philipp und seine Mutter beauftragten einen Bestatter, kündigten die Wohnung und entschieden sich gegen eine Todesanzeige in der Zeitung, da Renate nur noch wenige Kontakte gehabt hatte.
Philipps Mutter, Philipps Freundin, Herr König und einzelne Bewohner und Mitarbeiter der Seniorenwohnanlage standen an einem sonnigen Frühlingstag vor der Friedhofskapelle. Die war noch von einer anderen Trauergemeinde belegt. Ein leichter Wind ließ die Blätter rauschen, aber auf einmal rauschte es immer lauter, denn es näherten sich Autoreifen auf Asphalt, auf dem noch die Streusteinchen des Winters lagen. Eine schwarze Limousine hielt am Friedhofstor und zwei Türen öffneten sich. An der Fahrerseite vorn stieg ein junger Mann in einer Uniform mit weißer Marinemütze und grüner, mit Litzen besetzter Militärjacke aus, lief vorn um das Auto herum und öffnete die hintere Tür an der Beifahrerseite. Gleichzeitig war an der Fahrerseite hinten ein anderer junger Mann in einem unauffälligen schwarzen Anzug erschienen und hinten um das Auto herumgelaufen. Ein durchsichtiges Kabel führte von seinem linken Ohr in seinen Hemdkragen. Ein hochbetagter, aber immer noch stattlicher Mann mit aufrechter Haltung entstieg dem Fond des Wagens und ging, gefolgt von seinen beiden aufmerksamen Begleitern, auf das Grüppchen um Philipp zu. Philipp erkannte das leicht hängende Augenlid und den Pigmentfleck auf der rechten Wange. König Harald der Fünfte von Norwegen trat auf Philipp zu und ergriff seine Hand. „You must be Philipp. I heard so much about you. My deepest condolences.“
Laura Sophie Stölzl, geboren 1978, neu beim kreativen Schreiben, aber alter Hase beim Schreiben von Musik sowie musiktheoretischen und musikpädagogischen Sachtexten.

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