F.A.E.

Martin A. Völker für #kkl56 „Und dann kam…“




F.A.E.

Ich will dich nicht in dem Glauben lassen oder darin bestärken, als wüsste ich in jedem Augenblick, was zu tun sei. Dieses Wissen geht allen ab. Den perfekten Menschen gibt es nicht. Von keinem fordere ich, dass er oder sie ein guter Mensch sein soll, aber ich fordere, in erster Linie von mir selber, jeden Tag ein besserer zu werden. Mag der Weg noch so steinig sein. Diese Erfahrung will ich heute mit dir teilen, weil es unsere Schwächen sind, die mitgeteilt anderen aufhelfen. Die zwischenmenschliche Kommunikation fordert mich heraus. Das Problem besteht in einer besonderen Beschaffenheit meiner Wahrnehmung, für die ich nach Jahren folgendes Bild gefunden habe: Stelle dir einen großen Raum vor. Die weißen Wände und das Fischgrätparkett lassen diesen Raum trotz fehlender Fenster hell und freundlich wirken. Der Raum weist zwei Türen auf, eine führt in den Raum hinein, eine weitere am anderen Ende hinaus. Der Raum ist nahezu leer, dennoch übt er mit seiner Übersichtlichkeit und Klarheit einen solch starken Reiz aus, dass ich mich gern in ihm aufhalte, ihn immerzu und auf dieselbe Weise durchqueren möchte. Wenn ich kommuniziere, kommt es mir so vor, als ob der Raum, den ich für einen leeren gehalten habe, in Wirklichkeit zum Bersten gefüllt wäre. Ein Stimmengewirr kommt von allen Raumseiten, welche sich in Bergketten verwandeln, von denen herunter ein Wald bis in die Mitte des Raumes wächst. Ich weiß, dass da diese Tür am anderen Ende des Raumes vorhanden ist, ich weiß sogar, welche Richtung ich einschlagen muss, weil ich den Raum als leeren kannte und als leeren in Gedanken vor mir sehe. Das hilft mir allerdings wenig. Alles wird unübersichtlich. Das Gerede lässt wohl unentwegt Bäume emporschießen und die Berge wandern. Der direkte Weg von A nach B ist mir versperrt. Das Verhalten meiner Mitmenschen lässt darauf schließen, dass die ganze übrige Welt sich in diesem Raum befindet, sie ihn eingenommen hat. Geradezu vermessen wäre es, jene, die ebenfalls von A nach B unterwegs sind, davon zu überzeugen, dass sie das, was ihnen im Weg steht, selbst erschaffen haben. Zu ihrer Verärgerung würde es beitragen, ihnen von der zweiten Tür zu erzählen, weil die Erkenntnis sich bei ihnen erst einstellt, wenn der Wald durchwandert, jeder Berg erklommen und überstiegen wurde. Das kann dauern, und darauf habe ich mich einzustellen. Ich muss so tun, als wüsste ich von nichts, meine Ungeduld muss ich für mich behalten. Besonders schwer zu ertragen ist es, wenn solche sich mir nähern, die bloß zur Befüllung des Raumes beitragen und ihn gar nicht durchqueren wollen. Der Weg sei das Ziel, so sagen sie, während ich die Struktur und das Ziel sofort erkannt habe, das Ziel jedoch unmöglich erreichen kann. Trotzdem gebietet es die Höflichkeit, sich für eine gewisse Zeit auf diese durch Gespräche verordnete Ziellosigkeit einzulassen. Immense Kraft wird aufgewendet, obwohl kein Ziel erreicht, keine echte Aufgabe erfüllt wird. Nach solchen Situationen und Erfahrungen blicke ich wie von oben in den leeren Raum hinab, wundere mich über die Wälder und Berge, in denen ich mich umhertreiben musste. Kaum glauben kann ich, was ich erlebte. Deshalb betrete ich anderentags arglos und naiv den Raum, der, wenn andere sich darin aufhalten, sich erneut wie von Geisterhand verändert. Eine große Verworrenheit ist meinem Eindruck nach das Kennzeichen jeder zwischenmenschlichen Kommunikation, im Grunde genommen entspricht sie gestörten Abläufen. Der Raum ist auf Performance ausgerichtet, während mir die Regieanweisungen unbekannt bleiben. Blind bin ich für das Gezeigte und Ungesagte, eine Unendlichkeit liegt zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Wie blind und taub bin ich dafür, trotz alledem spiele ich, mehr oder weniger passend maskiert, auf gut Glück mit. Ich tue so, als würde ich kommunizieren, sodass ich manchmal selbst glaube, es perfekt zu beherrschen. Ganz hingerissen bin ich bisweilen von meiner Schauspielkunst, gleichwohl dem dunklen Gefühl verhaftet, entlarvt zu werden. Stellt der besagte Raum ein Büro dar, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele hier von A nach B wollen, was mich tatsächlich herausragend funktionieren lässt. Jedoch gibt es da noch den privaten Raum, in dem sich zwei, die sich füreinander entschieden haben, begegnen. In diesem Raum geht es gar nicht darum, von A nach B zu gelangen, Strukturen und Sachverhalte, Gründe und Argumente sofort aufzuzeigen, sondern darum, sich gemeinsam am Wildwuchs jener Dinge, die für mich nicht vorhanden sind, die schemenhaft bleiben oder deren Vorhandensein geglaubt werden muss, zu erfreuen. Einzig das Kinderlied erkannte und erkennt mich: Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm. Ganz einfach nach Hause will das Männlein, die schöne Leere des eigenen Raumes genießen, von A nach B, ohne Umwege, die das Ziel nicht ersetzen können. Frei aber einsam, wie es das Motto des Geigers Joseph Joachim besagt, welches die Freunde Albert Dietrich, Robert Schumann und Johannes Brahms als F.A.E.-Sonate glücklich musikalisch umgesetzt haben.




Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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