In der Sommerfrische

Peter Baeumle-Courth für #kkl56 „Und dann kam…“




In der Sommerfrische

Ruhig liegt der alte Bahnhof in der Abendidylle. Das Gebäude ist lange schon geschlossen. Die Mülleimer sind voll. Der Ticketautomat blinkt ungeduldig.

Auf dem Bahnsteig von Gleis 1 spaziert ein frisch verheiratetes Pärchen in der Sommerfrische. Er fasst sie um die Taille, sie sieht kurz auf ihr Handy, tippt darauf eine kurze Nachricht, steckt es dann in ihre Tasche und drückt sich fest an ihn. Beide scheinen glücklich zu sein.

Hinter den Wolken blinzelt der Mond auf sie herab und macht ein finsteres Gesicht. Wahrscheinlich ist er neidisch und ärgert sich über sein langweiliges, unnützes Junggesellen-Leben. Außerdem hat er kein Handy.

In der beinahe regungslosen Luft hängt der intensive Duft des Flieders, der sich mit dem Dieselgeruch eines um diese Zeit noch herumfahrenden Transporters eines Lieferdienstes vermischt. Irgendwo hinter Gleis 2 schnattert in der feuchten Wiese eine Graugans.

„Wie herrlich, Paul, wie herrlich es ist“, sagt die Frau, nachdem sie einige Selfies für das Internet gemacht hat. „Man könnte wirklich glauben, dass das alles ein Traum ist. Sieh nur, wie gemütlich dort das Wäldchen erscheint! Wie wundervoll die Eisenbahnschienen, die sich nicht erst im Unendlichen zu schneiden scheinen! Sie sagen uns, dass es in der Ferne viele Menschen gibt, Städte, Metropolen. Und ist es nicht wundervoll, wenn der Wind uns leise das Geräusch des nahenden Zuges heranträgt?“

„Ja, so ist es. – Was Du übrigens für heiße Hände hast! Das kommt, weil Du Dich aufregst, Lisa… Zu viel los auf dem Handy? – Was haben wir eigentlich heute zum Abendessen?“

„Räuchertofu und Reis-Gemüse-Curry. Für uns zwei genügt das Gemüse-Curry, denke ich. Für Dich haben wir im Supermarkt vorhin außerdem ja noch Sardinen und Gurkensalat geholt. Sardinen magst Du doch so sehr!“

Der Mond versteckt sich missmutig hinter einer fetten Wolke, als hätte er an einer Zitrone gelutscht. Das Glück dieser Menschen erinnert ihn an seine Einsamkeit, an seine stete Umlaufbahn fern von allen Wäldern und Tälern.

Das Ausfahrtsignal von Gleis 1 leuchtet bereits grün.

„Da, der Zug kommt“, sagt Lisa. „Wie schön!“

In der Ferne zeigen sich die drei Augen der in der Regel stündlich fahrenden Regionalbahn. Die Lautsprecherdurchsage am Bahnsteig kündigt den Zug mit nur geringer Verspätung an und warnt die Menschen vor der Bahnsteigkante.

„Wir warten noch diesen Zug ab und gehen dann nach Hause“, schlägt Paul vor und gähnt bereits.

„Ein schönes Leben haben wir beide, Paul, so schön, dass es fast nicht wahr sein kann!“

Lisa blickt schmachtend zuerst zu Paul, dann zur großen Wolke, die den Mond verbirgt, schließlich auf ihr Handy, um die neuesten Nachrichten zumindest flüchtig anzusehen.

Die finster wirkende Regionalbahn kriecht beinahe lautlos und sehr, sehr langsam an den Bahnsteig heran, dann quietschen ihre Bremsen. Endlich hält sie.

In den nur wenig erleuchteten Fenstern des Zuges zeigen sich verschlafene Gestalten. Einige der Türen öffnen sich geräuschvoll. Der Zugführer hat sein kleines Fenster ebenfalls geöffnet. Er betrachtet interessiert das Geschehen auf dem Bahnsteig. Eine kleine Ablenkung in seinem Zugführer-Dasein.

„Ach!“ tönt es aus dem zweiten Wagen, „Schaut nur! Lisa und Paul holen uns ab! Da sind sie! Ja!“

Zwei kleine Mädchen springen johlend aus dem Zug und klammern sich an Lisa. Hinter ihnen erscheinen eine beleibte, etwas ältere Dame, ein langer, dürrer Herr mit grauem Bart, dahinter zwei mit schwerem Gepäck beladene, etwas übergewichtige Jungen, ihre Handys lässig in die Hosentaschen geschoben, schließlich die Großmutter, ihr Strickzeug unter dem Arm.

„Da sind wir, da sind wir, meine Lieben!“ beginnt der Dürre mit fröhlicher Stimme, Paul die Hand drückend. „Ihr habt wohl lange gewartet? Über den Onkel Theodor gelästert, dass er nicht kommt? – Micha, Marcel, Nina, Nelly: Kinder, begrüßt Vetter Paul! – Wir kommen alle zu Euch, mit Kind und Kegel, und zwar gleich für eine Woche! Das wird Euch doch nicht lästig fallen, nicht wahr? Bitte, nur keine Umstände!“

Als Lisa und Paul den Onkel mit der gesamten Familie erblicken, fährt ihnen der Schreck in die Glieder.

Während Onkel Theodor spricht, entsteht in Pauls Fantasie ein Bild: Lisa und er überlassen den Gästen ihre drei Zimmer, ihre Bettdecken, ihre Kissen. Das Curry, der Gurkensalat, die Sardinen und das Räuchertofu werden innerhalb von wenigen Sekunden verspeist, das kühl gestellte Bier wird geplündert. Die Jungs reißen die Blumen ab, verschütten die Cola, lärmen und zertreten die Beete. Die Tante spricht den ganzen Tag von ihren Krankheiten – Diabetes, Tinnitus und schwere Schmerzen in der Unterleibsgegend – und davon, dass sie schließlich eine geborene Freifrau von Finkenfels sei.

Paul blickt bei diesen Gedanken voller Zorn auf seine Frau und flüstert ihr zu: „Sie sind gekommen, weil Du immer diese schönen Fotos von unserem Haus postest. Dass der Teufel sie hole!“

„Nein, Theodor hat gar kein Insta, Du hattest sie doch mit der Post zu Ostern eingeladen, uns zu besuchen, wann immer sie wollen“, erwidert sie, blass und ebenfalls voller Bitterkeit.

„Außerdem sind das nicht meine, sondern Deine Verwandten!“

Sich zu den Gästen wendend, sagt sie mit liebenswürdigem Lächeln:

„Bitte schön! Seid willkommen!“

Hinter der großen grauen Wolke tritt in diesem Moment der Mond hervor. Er scheint zu lächeln und sehr vergnügt zu sein, dass er keine Verwandten hat.

Paul aber wendet sich ab, um vor den Gästen sein böses, verzweifeltes Gesicht zu verbergen und sagt mit künstlich-freudiger, gut gelaunt klingender Stimme:

„Wir bitten sehr! Seid willkommen – als unsere lieben Gäste!“

Mit einem leisen Quietschen setzt sich der Regionalzug wieder in Bewegung. Bald verschwinden die roten Lichter am Horizont.


[Basierend auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Anton Pawlowitsch Tschechow]




Peter Baeumle-Courth, geb. 1960.

Von 1988 bis September 2023 habe ich in Bergisch Gladbach als Dozent für Mathematik und Informatik gearbeitet, u.a. an der privaten Fachhochschule der Wirtschaft.

Seit Oktober 2023 befinde ich mich in meinem Ruhestand und habe neben meinem Engagement als ehrenamtlicher Schiedsmann auch ein wenig Zeit für meine Hobbys wie das Schreiben von kleinen Geschichten.

Ich wohne in dem kleinen Ort Ockenfels bei Linz am nördlichen Mittelrhein.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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