Stillwasser oder der fünfte Morgen

Josephine Straub für #kkl56 „Und dann kam…“




Stillwasser oder der fünfte Morgen

Eines Morgens war er plötzlich da, der tote Fisch in meiner Wohnung. Kein Wasser, kein Behälter, keine Spur, wie er hineingekommen war. Er lag einfach da, mitten auf dem Teppich, als hätte er sich selbst dorthin gelegt. Seine Haut war noch feucht, die Augen glasig, der Körper makellos – kein Zeichen von Verwesung, kein Geruch. Ich stand eine Weile reglos da, betrachtete ihn, als würde er mir etwas sagen wollen. Dann hob ich ihn auf, warf ihn in den Müll und vergaß ihn. Dachte ich. Vielleicht hatte meine Katze ihn hereingebracht – sie streunte nachts oft durch die Hinterhöfe, brachte gelegentlich Mäuse, einmal sogar einen Vogel. Ein Fisch war neu, aber nicht unmöglich.

Am nächsten Morgen lag er wieder da. Derselbe Fisch, an derselben Stelle, in derselben Haltung. Ich hatte den Müll am Vorabend hinausgebracht, kontrolliert, ob die Fenster geschlossen waren. Die Tür war verriegelt. Die Katze saß auf dem Fensterbrett und putzte sich, als wäre nichts gewesen. Ich hob den Fisch erneut auf, diesmal vorsichtiger, als könnte er zerbrechen. Wieder war er frisch, fast lebendig, nur eben tot. Ich legte ihn auf einen Teller, zerteilte ihn mit einem Messer und stellte ihn der Katze hin. Sie fraß ihn ohne Zögern, mit jener stillen Selbstverständlichkeit, die Tiere haben, wenn sie etwas kennen, das wir nicht verstehen. Vielleicht hatte sie ihn selbst gebracht. Vielleicht hatte sie einen Zugang zu einem Teich, einem Aquarium, einem Ort, den ich nicht kannte. Vielleicht war das hier nur ein Kreislauf, den ich nicht durchschauen konnte. Ich wollte es glauben. Ich musste es glauben.

Am dritten Morgen lag er wieder da. Derselbe Fisch, an derselben Stelle, in derselben Haltung. Ich hatte den Teller gespült, die Reste entsorgt, die Katze war satt und schlief auf dem Sofa. Und doch lag er wieder da – unversehrt, frisch, als hätte ihn niemand berührt, nur eben tot. Ich hob ihn auf, betrachtete ihn lange, und statt ihn zu verfüttern oder wegzuwerfen, holte ich ein großes Einmachglas aus dem Schrank. Ich füllte es mit Wasser, legte den Fisch hinein, verschloss es fest. Die Katze sprang auf die Fensterbank und schnupperte am Glas, miaute leise. Ich stellte es auf den Tisch, setzte mich davor, und wartete. Worauf, wusste ich nicht. Vielleicht auf eine Veränderung. Vielleicht auf ein Zeichen. Vielleicht auf mich selbst.

Am vierten Morgen lag er wieder da. Nicht im Glas, sondern auf dem Teppich. Unverändert. Derselbe Fisch, an derselben Stelle, in derselben Haltung. Wieder lag er da – unberührt, fast als würde er atmen, nur eben tot. Das Einmachglas stand leer auf dem Tisch, das Wasser war klar, der Deckel verschlossen. Ich verstand nicht, wie er entkommen war – oder ob er überhaupt je darin gewesen war. Ich hob ihn auf, diesmal ohne Eile, ohne Widerstand. Ich betrachtete ihn wie einen alten Bekannten, der jeden Tag aufs Neue stirbt, nur um wiederzukehren. Dann fuhr ich in die Stadt und kaufte ein Aquarium. Groß genug für einen Fisch, klein genug für meine Wohnung. Ich füllte es mit Wasser, stellte es auf den Wohnzimmertisch und legte den Fisch hinein. Die Katze beobachtete mich. Ich setzte mich neben sie und wartete. Vielleicht würde er bleiben. Vielleicht würde sich etwas ändern. Vielleicht war das der Anfang.

Am fünften Morgen war er nicht da. Der Teppich war leer, das Aquarium unbenutzt, das Wasser klar und still. Ich wartete lange, saß auf dem Boden, die Katze neben mir, beide schweigend. Ich suchte ihn – unter dem Sofa, im Einmachglas, im Müll. Nichts. Keine Spur. Keine Rückkehr.

Ich öffnete das Fenster, sah hinaus. Und da war er. Auf der Straße, wo gestern noch Asphalt war, war nun ein Teich. Tief, klar, von Sonnenlicht durchzogen. Und darin schwamm er – lebendig, ruhig, als hätte er nie etwas anderes getan. Ich ging hinunter auf die Straße – oder das, was davon geblieben war – und kniete mich an den Rand des Teichs. Der Fisch zog seine Kreise, langsam, gleichmäßig, ohne Hast. Die Katze saß auf der Fensterbank, beobachtete uns. Ich streckte die Hand aus, berührte das Wasser. Es war warm. Ich sagte nichts. Ich verstand nichts. Aber etwas war anders. Und das reichte.

Ich weiß nicht, woher er kam. Und ich weiß nicht, warum er ging. Aber seitdem ist etwas stiller geworden in mir. Nicht leer, nicht traurig – nur still. Als hätte etwas seinen Platz gefunden, den es nie hatte. Draußen liegt der Teich, still wie ein Gedanke, den man nicht zu Ende denkt. Der Fisch schwimmt, wenn ich vorbeigehe – nicht zu mir, nicht von mir weg, einfach so. Und manchmal glaube ich, dass es nicht darum ging, ihn zu verstehen. Sondern darum, ihn einfach da sein zu lassen.




Josephine Straub, geboren 1987, hat Psychologie und Philosophie studiert. In ihren literarischen Arbeiten verbindet sie analytisches Denken mit poetischer Präzision. Ihre Texte widmen sich den großen Fragen des Menschseins – von Identität und Vergänglichkeit bis hin zu metaphysischen und ontologischen Grenzbereichen. Schreiben ist für sie eine Form der existenziellen Erkundung.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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