Katharina Vasicek für #kkl56 „Und dann kam…“
Fast reife Birnen
Es war der Tag, an dem die erste Birne vom Baum fiel. Ich kann mich gut erinnern, als ich nachmittags nach Hause kam, lag sie da. Die Schnecken, Wespen und andere Krabbeltiere hatten sich schon gierig über sie hergemacht und ich war traurig. Ich lebte in einer winzigen Wohnung im Erdgeschoß und dazu gehörte ein noch winzigeres Stückchen Grün. Es reicht gerade so für einen Liegestuhl, ein paar Blumen und eben diesen Birnbaum im Topf. In diesem Jahr trug er exakt sieben Früchte.
Die Schnecken durften alles essen. Den Salat verzieh ich ihnen, die Ringelblumen auch. Für die Wespen hatte ich extra eine hübsche, gelbe Vogeltränke aufgestellt. Vögel verirrten sich selten in meine Nische. Doch von den Birnen war jede einzelne kostbar für mich. Es tat mir leid um die süße Frucht.
Die Traurigkeit blieb den ganzen restlichen Tag bei mir. Es machte mir keine Freude zu kochen, also aß ich nicht. Ich konnte mich auf kein Buch und keinen Film einlassen, also las ich nicht und sah nicht fern. Ich saß nur auf dem Sofa und starrte vor mich hin. Vor meinem inneren Auge sah ich die zerfressene Birne im Gras liegen und der Kloß in meinem Hals bahnte sich einen Weg durch meine Augen. Tränen flossen und flossen, bis ich mich völlig ausgedörrt fühlte und Schluckauf bekam.
Ich wusste, ich sollte aufstehen und ein Glas Wasser trinken, aber anstatt mich aufzurichten, glitt ich kraftlos auf den Boden. Hier fühlte ich mich besser und die Tränen flossen weiter. Meine Augen schwollen an, bis ich sie kaum noch offen halten konnte. Ich darf nicht einschlafen, ich muss noch meine Zähne putzen, dachte ich. Zähneputzen ist wichtig. Einer der Polster lag in Reichweite und auch die Decke, die ich nie wegräumte. Irgendwann in der Dunkelheit wachte ich auf. In meiner eingerollten Haltung drückte der Hosenbund genau auf meine Blase. Sie tat schon richtig weh, ich hatte doch nicht jedes bisschen Wasser herausgeweint.
Der Rest von mir war steif. Mein Arm war auf dem harten Boden eingeschlafen und komplett taub, dafür fühlte meine Hüfte sich wund an, wie aufgescheuert. Ich wollte mich nicht bewegen. In meinem Mund lag ein ekelhafter Geschmack und meine Blase begann, pulsierend zu stechen.
Irgendwie kam ich auf die Toilette und hatte es sogar geschafft, unterwegs die Zahnbürste mitzunehmen. Während ich saß und der Strahl vor lauter Verkrampfung nicht einmal richtig Erleichterung brachte, bürstete ich mir notdürftig über die Zähne.
Rote Flecken auf dem Klopapier. Blut. Ich seufzte. Wann würde ich endlich zu alt für diesen Zirkus sein?
Als ich mir die Unterhose hochzog, setzte der Schmerz ein. Zur Hose kam ich nicht mehr, ich sackte direkt vor der Toilette zusammen. Zum Glück lag dort wenigstens ein weicher Teppich, es war ja nicht das erste Mal. Ich konnte dem Schmerz nicht einmal vorwerfen, ohne Ankündigung zu kommen. Im Gegenteil, wie ein echter Zirkus kam er angerauscht, mit Glöckchen und Fanfaren, als ob er mir von Ferne schon zeigen wollte: Es gibt kein Entkommen. Ob ich wollte oder nicht, ich würde die ganze Vorstellung sehen. Jedes einzelne Mal war für mich ein Platz in der ersten Reihe vorgesehen.
Dieses Mal war es der Clown mit der Lanze, der mich zuerst erreichte. Mit voller Wucht stieß er sie mir in den Unterleib, sodass ich minutenlang zusammengekrümmt auf dem weichen Kloteppich lag, die Hose halb um meine Füße gewickelt. Erst, nachdem ich die Überraschung des ersten Angriffs halbwegs überwunden hatte, schaffte ich es, mich im Hocken irgendwie ganz aus ihr herauszuwinden. Sie blieb gemeinsam mit der Zahnbürste einfach liegen. Es war egal. Ich kroch auf allen Vieren langsam und mit vielen Pausen in mein Bett.
Viele Menschen wären in so einer Lage bestimmt dankbar, jemanden um sich zu haben, ich nicht. Ich war einfach nur froh darüber, jetzt alleine zu sein. Ich konnte mich gut um mich selbst kümmern. Neben meinem Bett stand immer eine Flasche Mineralwasser. Es war mir zwar ein Rätsel, aber das gekaufte Wasser hielt länger als selbst abgefülltes aus der Leitung, das nach einer Weile nur noch widerlich schmeckte. Ich musste mich aber zum Trinken zwingen, denn je öfter ꟷ nein, umgekehrt, je weniger ich auf die Toilette ging, umso länger dauerte es. Es war auch so eine Ewigkeit.
Wenigstens war nichts mehr wichtig, nicht einmal mehr die Birne. Es gab nur noch den Schmerz in meiner Welt. Die Stunden ꟷ oder Tage, ich wusste es nicht ꟷ bestanden nur aus glühenden Spießen in meinem Unterleib, rotierenden Peitschen in meinem Magen und einer kreischenden Kakophonie aus Tinnitus, Atemgeräuschen und dem Rascheln meiner Haare, die meinen Kopf zersprengen wollte. Begleitet von wilden Fieberträumen, die nur unterbrochen wurden, wenn eine gnädige Ohnmacht mir eine kurze, schwarze Pause gewährte.
Ich hatte längst jedes Gefühl für Zeit verloren, als die Träume endlich leichter wurden, der Schmerz verglühte und der Zirkus langsam seine Zelte abbrach. Das geschah fast unmerklich und ohne irgendeine Erleichterung. Mein erschöpfter Körper fiel irgendwann einfach in einen tiefen Schlaf.
Zwei Tage später lag ich matt auf meinem Liegestuhl. Die Schnecken hatten sich inzwischen so richtig fettgefressen und anscheinend noch ihre gesamte Verwandtschaft zum Resteessen eingeladen. Von sieben fast reifen Birnen sind mir noch drei geblieben. Immerhin.

Katharina Vasicek lebt seit 1982 mit einem Fuß in der irdischen, mit dem anderen in der magischen Dimension. Als Chemieingenieurin geht sie den Dingen auf den Grund, als Künstlerin breitet sie ihre Flügel aus und beides zusammen zeigt Alltägliches in ungewohntem Licht.
Trotz oder gerade wegen diesem Leben an der Grenze ist sie sehr bodenständig. Oft sind es gerade die irdischen Themen, die ihr Interesse wecken und die sie mit ihrer feinen Beobachtungsgabe unverblümt ins Rampenlicht holt.
Eine Auflistung ihrer Veröffentlichungen findet sich auf www.poesiedelavie.at.
Über #kkl HIER

Gratulation zu dem Mut, über ein „unaussprechliches“ Martyrium zu schreiben, das jahrzehntelang allmonatlich ca. 50 % der Menschheit quält.
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