Frederik Wolfgang Kloiber für #kkl56 „Und dann kam…“
Entscheidung & Konsequenz
Die Entscheidung und ihre Schwester, die Konsequenz, treffen sich und belächeln uns Menschen bei Kaffee und Kuchen. Nach anfänglichem Geschnacke wird es ein Weilchen still, ehe die Entscheidung ihrem Ärger Luft machen möchte. Sie legt die Kuchengabel zur Seite und atmet theatralisch aus. Ihre Schwester, die Konsequenz, merkt auf und sieht sie fragend an.
Schnippisch teilt die Entscheidung ihrer Schwester mit, dass sie die Menschen nicht verstehen könne. Die Konsequenz, fragt ruhig und mit Blick auf ihren Kuchen, wie sie das denn meine.
Also das sei ja immer das gleiche Spielchen, begann sie zu erklären. Erst wollen sie alles und dann, wenn’s ins in die Hose gehe, dann sagen sie: „Das war die falsche Entscheidung!“ Was kann ich denn dafür, dass die Menschheit so klug ist wie ein baufälliger Stuhl ohne Beine und mit Holzwurm-Asthma?
Die Konsequenz beginnt zu grinsen und bemerkt kichernd: „Ach, mach dir keine Sorgen, Schwesterchen, die haben jetzt erstmal mit den Konsequenzen zu leben …“
Die Entscheidung sieht ihre Schwester mit rollenden Augen an und bemerkt frustriert: „Und dann bin ich wieder die Schuldige – ist doch immer dieselbe Mäusekacke!“
Manchmal treffen Menschen törichte Entscheidungen. Manchmal finden sie keinen sinnvollen Ausweg. Manchmal endet die Torheit einer falschen Entscheidung in der unausweichlich katastrophalen Konsequenz. Alexi und ich wurden schon oft Zeugen von Katastrophen. Menschen, die die Beherrschung verloren und dann zu etwas „Anderem“ wurden. Eine menschliche Transformation, wenn man so will. Eine Begebenheit blieb mir in besonders schlimmer Erinnerung.
Ist erst einmal eine Entscheidung gefallen … dann folgt der Verlauf … die Weggabelung zeigt
sich rasch. „Gut“ – „Schlecht“ – „Neutral“ sind des endgültigen Ergebnisses Konsequenzen. „Und dann …“ – folgt der Voyeurismus der Menschen.
Das schlimmste Ereignis, von dem ich zu berichten weiß, nahm seinen Anfang an einem sonnigen Sommertag von vor ein paar Jahren. Alexi und ich waren damit beschäftigt, seine Wohnung zu renovieren. Wände weißeln. Trapezboden verlegen. Neue Steckdose samt Verblendungen installieren. Also das ganze Programm. Der Gute hatte einen Glücksfall und danach das nötige Kleingeld. Also klingelte relativ zügig mein Telefon und er bat mich, zu helfen, was ich auch tat.
Ein paar junge Leute feierten ausgelassen in einer Wohnung auf der anderen Straßenseite. Es floss reichlich Alkohol. Zuviel Alkohol! Plötzlich – ich stand gerade mit Alexi auf dem Balkon und wir rauchten eine Zigarette –, als es geschah. Ein stark angetrunkener Halbstarker begann, auf dem Balkongeländer herumzuturnen. Alexi rief noch rüber: „Blyat – geh vom Geländer runter, du bist sonst gleich tot!“
Ich zog an meiner Zigarette. Der Jugendliche verlor die Balance und aus irgendeinem Grund trat ich einen Schritt vor und verfolgte, wie er aus dem fünften Stock nach unten stürzte. Ich erinnere mich sogar noch an das, was ich sagte: „Jupp, das war’s!“
Keine Sorge! Der Jugendliche hatte mehr Glück als Verstand. Unten stand ein LKW mit Plane und der Junge ist so gefallen, dass die Plane ihm das Leben gerettet hat. Nun, mein Freund Alexi ist ein wenig Pole, ein wenig Russe, ein wenig Ukrainer und um zwanzig Ecken ein bisschen Deutscher. Er spricht Polnisch, Russisch, Ukrainisch und Deutsch. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass von „Suka“ über „Kurwa“ zu „Blyat“ zu „Hurensohn“ alles an Schimpfwörtern fiel, was es in diesen Sprachen gibt. Alexi ist auch ausgebildeter Sanitäter und so schnell, wie der vom fünften Stock nach unten geeilt war, so schnell habe ich ihn noch nie gesehen. Seine Sanitäter Tasche hatte er sich beim Rettungseinsatz der anderen Art geschnappt und dabei einen sauberen Kratzer an der Tür verursacht, den ich später auszubügeln hatte.
Ich habe Alexi selten so aufgebracht erlebt wie an diesem Tag. Natürlich folgte ich ihm nach unten. Er war auf den LKW geklettert, um nach dem Jungen zu sehen. Sein Gebrüll ließ die gesamte Straße einen Moment später zusammenkommen. Der Junge, dessen Name Sven war, saß auf der Plane und soff einen Schnaps aus einer dieser kleinen Flaschen. Dabei grinste er Alexi blöde an und fragte, was er habe. Ich dachte in jenem Moment: „Junge, das war genau die falsche Frage.“
Die Stimme einer jungen Frau durchbrach selbst Alexis‘ wutentbrannte Schreie. Später sollten wir erfahren, dass sie Anna hieß und Svens Freundin war. Das arme Ding … Sie kletterte ebenfalls auf den LKW und schlug wild auf ihren Freund ein. Der grinste nur blöde und meinte: „Baby, was regst du dich auf, ich bin unsterblich!“ (Anmerkung des Autors: Die Aussage Svens wurde von mir in verständliches Deutsch gebracht und somit sinngemäß erhalten.) Man hört selten Angst so ungefiltert. Eher sieht man sie in den Gesichtern und Augen der Menschen. In Annas Stimme fand die Angst einen neuen Ausdruck. So empfand ich es an diesem Tag. Für mich nahm es den Anschein an, als hätte sie nicht zum ersten Mal eine von Svens Schnapsideen miterlebt oder besser gesagt durchlebt. Liebe? Erschütternde Realitäten können von ihr überstanden werden. Manchmal aber ist selbst sie nicht stark genug, um gegen die finale Konsequenz zu obsiegen. Eine Traurigkeit der Entscheidung ist die Dummheit.
Luigi kam aus dem Haus. Ich wusste, dass ihm der LKW gehörte. Ein stämmiger Deutsch-Italiener, der keinen Sinn für Nonsens hatte. Er lief auf mich zu und seinen Augen konnte man entnehmen, dass er ein paar Antworten wollte.
Ein paar Momente später wusste er, dass der Junge Sven besoffen aus dem fünften Stock gefallen war. Alexi nach ihm sehen wollte. Seine Freundin Anna ihm Schläge verpasste und das Saufen bei jungen Leuten zum Problem geworden ist. Er kratzte sich am Bart und brüllte los: „Runter von meinem LWK, subito!“ Sie kamen alle runter und Luigi sah selbst nach, ob etwas beschädigt war. Komischerweise war die Plane so stabil gewesen, dass kein Riss und keine Beschädigung zu finden war. Lag vielleicht auch an der Ladung – Toilettenpapier?
Es hätte nun vorbei sein können. Und dann … Zwei Tage später. Alexi und ich, als wir beide Alexis Möbel in die frisch renovierte Wohnung brachten, trafen wir wieder auf Anna. Sie trug Schwarz. Trauer? Ich fasste mir ein Herz und fragte, was los sei. Sie begann herzzerreißend mitten auf der Straße zu weinen und berichtete, dass Sven tot sei.
Sven hatte es fertiggebracht, mit seinen Freunden zum See rauszufahren, um mit knapp 2 Promille in der Nacht eine Runde schwimmen zu gehen. 2 Promille sind dafür zu viel? 2 Promille würden einen erwachsenen Mann umhauen? Natürlich, alle Fragen sind mit „Ja“ zu beantworten. Die jungen Leute aber sind da aus anderem Holz geschnitzt. Anna erzählte uns, dass Sven regelmäßig trank und natürlich zu viel. Alexi fragte nach den Eltern von Sven. Man sah richtig, wie Annas Augen bitterböse aufblitzten, als sie von dem Vater und der Mutter berichtete. Nie waren sie da. Immer auf der Jagd nach der Karriere. Svens „Wohl“ konnten sie nicht erkaufen …
An jenem Abend fuhr ich mit unruhigen Gedanken nach Hause. Die Liste junger Menschen, die lange vor ihrer Zeit den letzten Weg gehen, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Woran lag es, dass es immer ein „und dann“ gab? Und dann bestellt man den Grabstein? Und dann vergießt man zahllose Tränen? Und dann vergilbt das Foto, bis keiner mehr weiß, wer das eigentlich war? Es ist seltsam, die Alten werden immer älter und die Jungen fallen der Zeit zum Opfer. Ich mochte diese Frage noch nie und doch bleibt sie gestellt und ohne Antwort.
Kinder und Jugendliche brauchen Anleitung und Korrektur. Fertig geboren wird niemand und wer das anders sieht, sollte sich die Todesanzeigen der letzten zehn Jahre mal genauer ansehen. Ich empfehle, auf die Geburtsdaten zu achten!
Die Habgier frisst die Zukunft auf. Wenn Vater und Mutter schuften müssen, weil’s sonst nicht reicht, wer soll sich um die Kinder kümmern? Die Schulen? Versagen schon seit Jahrzehnten, wenn ich an meine eigene Schulzeit denke – Gott bewahre!
Gewalt und Verrohung sind Trend und Mode an den Schulen geworden? Zum guten Ton gehört ein bisschen Mobbing und ein-, zweimal die Woche eine vor‘s Maul? – Wo ist der Lehrer da?
Wo sind die Lehrkörper? Skandal um Skandal erschüttert das marode Schulsystem und ein leeres Lippenbekenntnis jagt das nächste leere Lippenbekenntnis.
Ein Lehrkörper hat den Auftrag, zu lehren, nicht zu verwalten … Ich entsinne mich an meine Schulzeit. Was ich heute weiß? Damit hatte die Lehranstalt nichts zu tun, das war Eigenleistung. Oh und Ah und Phänomen und der Rest bleibt auf der Strecke? Und was wurde aus dem Phänomen? Ich frage nur: Wie lange dauert ein Aufbaustudium? Zehn Jahre oder zwanzig Jahre. Von den Phänomenen habe ich nie wieder was gehört noch gesehen. Tja, der Lehrkörper – in Häme gesprochen.
Da sind noch die „besorgten“ Mütter, die ihren unbegabten Sprösslingen gute Noten erstreiten und darüber hinaus immer vergessen, dass es sonst nicht gereicht hätte. Aber wenn man das nötige Kleingeld hat … Wer stellt da Fragen?
Wo soll die nötige Substanz herkommen, wenn Vater und Mutter gefehlt haben? Wo soll die ersehnte Entwicklung herkommen, wenn es keine Substanz gibt? Wo soll die Zukunft sich für unsere Kinder eröffnen, wenn man ihnen die Schlüssel verweigert?
Natürlich gibt es Ausnahmen und doch, von den Ausnahmen wird der Kohl nicht fett und es fehlt die Summe, der Pool, aus dem die Zukunft schöpfen kann. Die Ausnahme? Ich liebe es, wenn die Experten sich an der Ausnahme ergötzen und darüber hinaus den Rest vergessen …
Klingende Münzen vermögen aber trotzdem nicht, das fehlende Potential zu erkaufen. Hochbegabung war nie eine Frage des Bankkontos …
Und dann stellen Mami und Papi fest, dass die Kohle umsonst verschwendet wurde. Oh, schrecklich ist die Realität!
Goethe schrieb in seinem Gedicht „Trost in Tränen“ folgenden Vers: „Wie kommts, dass du so traurig bist. Da alles froh erscheint? […]“ Berechtigte Frage, wenn man länger darüber nachdenkt, und doch einfach zu beantworten.
Frederik Wolfgang Kloiber, Schriftsteller – Essayist – Poet, geboren am 11. August 1978 in Nordbayern, in unmittelbarer Nähe zur Grenz der ehemaligen DDR… Der Autor verlebte eine glückliche Kindheit, die von einer Leidenschaft zu Büchern geprägt war. Wie in jedermanns Leben, kam es auch im Leben des Autors zu Schicksalsschlägen. Einer dieser Schicksalsschläge führte den Autor in Berührung mit den Werken von Franz Kafka, die bis zu heutigen Tage für den Autor von entscheidender Bedeutung sind. Findet er in Kafkas Zeilen seinen Frieden, die Kraft selbst zu schreiben.
Letzte Veröffentlichung(en)
2020 „Feuer im Ghetto“ – Anthologie Ulrich Grasnick Lyrik Preis 2021 – ISBN:978-3-947215-96-6
Aktuelle Veröffentlichung – Der vernunftbegabte Narr, der denkt, Denkverbot und weitere… – #kkl-Magazin
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