Woher kommt der Wind?

Bernhard Brack für #kkl57 „Selbstermächtigung“




Woher kommt der Wind?

Welch sinnvollere Aufgabe gab es für einen pensionierten Sozialarbeiter und Radler, als eine Kleinklasse von pubertierenden Jungs und Mädels auf einer Radtour um den Bodensee zu begleiten? Einzig der Regen und die Kälte dämpften meine Vorfreude. Doch trotz des garstigen Wetters und wenig erfreulicher Prognosen wollten die meisten losradeln.

Die Tour begann damit, dass jemandem die Kette riss (wir deshalb ein Rad mieten mussten), zwei Mädchen bei der ersten leichten Steigung vom Rad stiegen und die vier Jungs, die vorausfuhren, nicht am vereinbarten Ort warteten. Beim ersten Unterstand – inzwischen regnete es in Strömen – an dem wir alle wieder einsammelten, stiess ein Junge, Ari, mit seinem Vorderrad immer wieder gegen mein Hinterrad, und überhörte meine Bitte, damit aufzuhören. Ich kochte. Kochte noch mehr, als wir weiterradelten und er trotz wiederholter Aufforderung auf der Gegenfahrbahn fuhr, direkt auf Entgegenkommende zu, bis diese erschrocken läuteten. Erst im letzten Moment wechselte er die Fahrbahn. Zum Schäumen brachte er mich, als er einer jungen Frau hinterherfuhr, seinen Kopf über die Lenkstange neigte und ihr auf den Hintern schaute. Wie von einer Tarantel gestochen fuhr ich dazwischen und schrie ihn an, was die Frau erschreckte. Er grinste unschuldig. Ich hätte ihn anbrüllen mögen, hielt mich aber zurück. Wie kann ich jemandem gegenüber respektvoll und tolerant sein, der selbst keinen Respekt und keine Toleranz zeigt?

Nach zwei Tagen brauchte ich eine Auszeit, denn besonders vier Jungs, zu denen auch Ari gehörte, provozierten mich bis aufs Blut: Sie riefen mich stets mit verhunztem Namen, verschwanden aus der Gruppe, um einen Kebab zu essen, provozierten Spaziergänger und Bettler, rissen aus Gärten Blumen ab oder verhöhnten kleine Schulkinder. Zum Fremdschämen – und das in einem fremden Land. Ich hatte als guten Onkel auf die Radtour gehen wollen, der ihnen die Freiheit und Schönheit des Radelns näher bringt, stattdessen fühlte ich mich auf einen Wachhund reduziert. Schon lange nicht mehr hatte ich mich so laut brüllen gehört.

In einer schlaflosen Nacht versuchte ich zu verstehen. Was suchten sie? Grenzen, ja, aber warum nahmen sie mir die Möglichkeit, Grenzen liebevoll oder wenigstens respektvoll zu setzen? War es der Hunger nach Anerkennung, nach ungeteilter Aufmerksamkeit? Wie weit konnte ich den Bogen spannen, sie einerseits zu verstehen und andererseits klare Grenzen zu setzen? Ich grub in meiner eigenen Jugend und fand ein Erlebnis, bei dem ich einen Lehrer zur Weissglut getrieben hatte. Da spürte ich sie wieder, jene Energie, die Autoritäten vom Sockel stossen will, um das Eigene zu finden.

Nach der Radtour geschah etwas Überraschendes. Ausgerechnet Ari, der mich am meisten provoziert hatte, fragte beim Klassenlehrer an, ob ich ihn beim Lernen unterstützen könne. War es möglich, dass meine Arbeit im Garten der Gedanken fruchtete?

Bei unserem ersten Gespräch hatte ich eine Tasse dampfenden Tees vor mir, die Ari länger anschaute.

„Willst du auch einen Tee?“, fragte ich ihn.

„Gerne“, antwortete er, und wir gingen zusammen ins Lehrerzimmer, um einen Tee zu kochen. Alleine dürfe er nicht in dieses Zimmer, sagte er. Es war der erste Akt unserer Komplizenschaft.

Ich erfuhr von ihm, dass er manchmal um zwei, drei Uhr morgens in die Stube schlich, um am Fernseher zu zocken.

„Was ist das?“, fragte ich ihn.

„Sie wissen nicht, was das ist?! Wo sind wir denn hier!“

Er zeigte mir an seinem Mobiltelefon verschiedene Computerspiele, bei denen Mensch die feindlichen Krieger killen musste und level um level aufsteigen konnte, je mehr Mensch killte.

Er erzählte mir, dass Vater und Mutter arbeiteten, er manchmal Angst vor seinem grossen Bruder habe, der zwar in einer eigenen Wohnung lebe, aber ab und zu nach Hause komme und ihn anschimpfe, wenn er schlechte Noten habe. Die Ehre der Familie stehe auf dem Spiel.

„Sie“, fragte er mich, „woher wissen wir eigentlich, dass heute Montag ist?“

„Ich habe heute Morgen auf dem Kalender nachgeschaut“, antwortete ich.

„Ja, aber der Kalender wird von jemandem gedruckt. Woher weiss der, dass heute Montag ist?“

Konventionen. Woher kommen sie? Wer begründet sie, die uns vermeintliche Sicherheit geben?

Er wollte sich nicht länger bei diesem Thema aufhalten, scrollte zum nächsten, erzählte mir von einem Mädchen, das er liebte, aber noch nie getroffen hat.

Wir trafen uns einmal die Woche, sprachen miteinander, bereiteten uns auf Prüfungen vor oder spielten Schach. Er wollte endlich einmal seinen Vater besiegen.

Als wir uns auf eine Englischprüfung vorbereiteten, versprach ich ihm eine Belohnung, wenn er eine Note fünf (gut) oder darüber schreibt.

„Was möchtest du?“

„Eine Radtour.“

Er schrieb eine 5,25!

„Wie fühlt es sich an?“, fragte ich ihn.

„Gut“, sagte er, „wie früher, als ich gute Noten schrieb.“

Als es zum Tag der Belohnung kam, schneite es, obwohl der Frühling schon begonnen hatte. Also wünschte er sich, mit mir in ein Café in der Stadt zu gehen. Eine grosse Überraschung war seine Wahl des Restaurants, das zur alternativen, grünen Szene gehörte.

„Woher kommt der Wind?“, fragte er mich, während wir durch die Stadt schlenderten.

Was für eine poetische Frage! Natürlich, es gibt wissenschaftliche Antworten, Luftdruck, Temperaturunterschiede, Erdrotation – aber gibt es nicht auch Sternenwinde? Gibt es einen verborgenen Winkel oder eine noch so weite Weite, die der Wind nicht kennt?

Er liess mir keine Zeit, um über eine Antwort nachzudenken, stupste mich an, warf eine Kusshand über die Strasse und sagte:

„Wenn Sie einen Kebab essen wollen, dann müssen Sie dorthin gehen. Und hier, in diesem Kiosk, da arbeitet ein echter Ehrenmann. Er hat mir schon als Kind ab und zu Süssigkeiten gegeben … Und hier, hier wohne ich. Sie glauben mir nicht?“

Er klaubte einen Schlüssel aus dem Portemonnaie und öffnete die Türe eines Wohnblocks unmittelbar neben dem alternativen Restaurant.

„Sehen Sie!“

Er liess die Türe wieder zuschnappen und strahlte mich an. Da verstand ich. Er hatte mich zu sich nach Hause geführt.




Bernhard Brack, 1957, ist in Abtwil/SG aufgewachsen. Nach Wanderjahren und verschiedenen Arbeitsstellen im Ausland bildete er sich zum Sozialarbeiter aus. Er war als solcher 33 Jahre in St. Gallen tätig und ist inzwischen pensioniert. Neben seiner Arbeit schrieb er die Geschichten alter Frauen und von Klient:innen auf. Er experimentiert als dichtender Kellner, Traumsammler und TrouvAmour. Sein letztes Werk, unten durch, das im Sommer 2024 im ILV-Verlag erschienen ist, handelt von einem Bankraub, den ein Sozialarbeiter gemeinsam mit seinen Klient:innen plant und durchführt: www.untendurch.jimdofree.com Seit Dezember 2024 besteht eine Webseite über seine Tätigkeit als TrouvAmour: www.trouvamour.ch

Literarische Tätigkeit, Publikationen:

  • Schräg fällt das Licht, Gedichte, Bernhard Brack, Poesie 21 von Anton G. Leitner, Verlag Steinmeier, Deiningen, 2015
  • Lyrik und Prosa unserer Zeit, Anthologie, Karin Fischer Verlag, 2015
  • So bist du gegangen, Väterchen, Erzählungen, Bernhard Brack, Orte Verlag, 2016
  • Klartext Deutsch 5, Hilger/Rethi/Schicker, Schulbuch Nr. 181785, Verlag Jugend & Volk Gmbh, Wien, 2017
  • Die SoG Sonntagsgedichte, hersg. Rainer Stöckli, Orte Verlag, 2019
  • Liebe, Lust und Langezeit, Gedichte, Bernhard Brack, ILV-Verlag Basel, 2021
  • Krieg, Krankheit und Vergebung, erzählte Geschichte, Bernhard Brack, ILV-Verlag Basel, 2022
  • Unten durch, eine St. Galler Kriminalgroteske, Bernhard Brack ILV-Verlag Basel, 2024
  • Das Gedicht, Menschlichkeit, Poesie der Nähe, Anton G. Leitner Verlag, München 2024

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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