Kohlhaas 2025

Gert Esterle für #kkl57 „Selbstermächtigung“




Kohlhaas 2025

In einer bekannten Kleinstadt im österreichischen Weinviertel lebte bis vor Kurzem ein Mann, dessen Schicksal über seine Heimatstadt hinaus großes Aufsehen erregte: Sebastian Kohlhaas, um die Siebzig, schwarzhaarig, mittelgroß, schlank, eckiges Gesicht mit auffällig flatterndem Kinn.

Ein rechtschaffener Bürger in den Augen seiner Mitmenschen, die ihn nur flüchtig kannten. Gerechtigkeit war für ihn beileibe kein leerer Begriff.

Er wohnte in einem kleinen Haus, war alleinstehend, kein Stubenhocker, regelmäßig mit dem Rad unterwegs, spielte leidlich Tennis und ausgezeichnet Tischtennis. Er besuchte gern die Heurigenbetriebe in der Region und widmete sich Sonntagvormittag im Bahnhofsrestaurant dem beliebten Kartenspiel Bauernschnapsen. Ein geselliger Zeitgenosse fürwahr, der – scheinbar literaturaffin – seine Mitmenschen oft mit einer schier unendlichen Fülle von Schüttelreimen zum Staunen brachte.

Am großen politischen Geschehen nahm er lebhaften Anteil. Noch intensiver verfolgte er die lokalpolitischen Ereignisse. Engagiert äußerte er sich zu vielen Projekten seiner Heimatstadt, teils durch persönliche Vorsprache im Gemeindeamt, teils in Form von schriftlichen Gesuchen, nicht zuletzt mittels Leserbriefen in der Bezirkszeitung. Schonungslos deckte er vermeintliche Verfehlungen und Irrwege der lokalen Entscheidungsträger auf. Wahrlich ein mündiger Bürger, dem die Gleichgültigkeit seiner konsumorientierten Zeitgenossen ein spitzer Dorn im Auge war. Er wurde nicht müde, deren dumpfen Stumpfsinn in aller Deutlichkeit anzuprangern. Überzeugen konnte er freilich kaum jemanden. Das wäre ein Widerspruch in sich gewesen. Vehement und konsequent nahm er zu den Vorgängen in der großen und kleinen Welt Stellung.

Er war besessen von einer Art Fanatismus, der Leuten eigen ist, welche die Welt zum Besseren verändern wollen.

Die aktuelle Weltlage war für ihn eine einzige Katastrophe. Die globalen Konflikte und Kriege betrachtete er als folgerichtige Resultate der ausschließlich von Machtinteressen gesteuerten Entscheidungen westlicher Politiker. Die Massenmedien verurteilte er wegen ihrer unkritischen, einseitigen Berichterstattung, welche den Blick auf die wahren Hintergründe des Weltgeschehens verstellten. Für Kohlhaas war die Demokratie keine geeignete Staatsform, in seinen Augen existierte sie in der Praxis ohnehin nicht. Auch im kleinen Rahmen, in seiner Stadtgemeinde, wurden, so meinte er, im politischen Vollzug nicht immer demokratische Maßstäbe angelegt.

Warum er alleine lebte? Ein derart geselliger Mensch mit einem so kritischen Geist? Seine Umgebung konnte nur mutmaßen. Kohlhaas redete nicht über seine persönliche Vergangenheit. Er hatte vor Jahren mit einer Frau schlechte Erfahrungen gemacht. Sie hatte seine Gutgläubigkeit ausgenützt und ihn um eine stattliche Summe betrogen. In schwangerem Zustand war sie dann von einem Tag auf den anderen entschwunden. Wo sie mit seinem Kind lebte, wusste er nicht und konnte es nie in Erfahrung bringen. Vor ein paar Jahren hatte er es mit einem jüngeren weiblichen Wesen aus dem Internet versucht. Diese leidenschaftliche Beziehung war nicht von langer Dauer. Die flatterhafte Dame wechselte ihren Liebhaber plötzlich, als Kohlhaas, in Geldnöten, finanziell auf Sparflamme schalten musste. Sie warf sich dem Vizebürgermeister an den Hals, einem verheirateten Filou, dessen Frau ihm sehr bald auf die erotischen Schliche kam. Die Internetliebe von Kohlhaas verschwand aus der Stadt und ward nicht mehr gesehen. Kohlhaas, bitter enttäuscht, schwor, mit keiner Frau mehr was anzufangen.

Im Grunde seiner Seele sehnte er sich nach Liebe.

Ihm war halt diese nicht beschieden. Damit musste er fertig werden. Seit frühen Kindheitstagen hatte er ohne menschliche Zuwendung leben müssen. Seine Mutter hatte ihn bald nach der Geburt abgeschoben. Er war in einer fremden Familie aufgewachsen. Auch die stieß ihn bald von sich und schob ihn ins Internat ab. Dort war er nicht gut aufgehoben. Immerhin besuchte er die Grundschule und vermochte in einem staatsnahen Betrieb unterzukommen. Er war ein Kämpfer und ließ sich nicht unterkriegen. So zeigte er als Postbeamter alle Eigenschaften, die man von ihm erwartete. Pünktlichkeit, Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit. Er ließ sich nicht gehen. Niemals. Kohlhaas war der Inbegriff eines loyalen Beamten. Immer allerdings im Rahmen seines überaus wachen Gewissens. Durchwegs mit einer eigenen Meinung ausgestattet. Jederzeit bereit, für diese einzustehen. Und immer am Puls der gesellschaftspolitischen Vorgänge und willens, sich aktiv für Projekte einzubringen oder dagegen zu sein, je nachdem, ob sie seinen Vorstellungen entsprachen oder nicht. So verbrachte er sein Berufsleben bis hin zur Pensionierung. Die stattete ihn mit Zeit aus, seinen Hobbys und Interessen zu frönen. Kohlhaas intensivierte seine sportlichen Aktivitäten: tägliche Radtouren und Tischtennis, eine Sportart, die ihn seit der Kindheit faszinierte. Im Nachbarort fand er eine Freundesrunde, welche er gern zu einem Verein erhoben hätte. Er wollte gestalten und organisieren. Die Vereinsidee musste er fallenlassen. Seine Mitspieler wollten lediglich als Hobbysportler ihrem wöchentlichen Vergnügen nachgehen und sich danach gemütlich bei Bier und Wein unterhalten.

Vor noch nicht langer Zeit war Kohlhaas eine höchst unangenehme Sache widerfahren. Die Stadtgemeinde plante, in der Umgebung einen Golfplatz zu errichten. Ein Großprojekt, welches vom Vizebürgermeister mit auffälligem Eifer vorangetrieben wurde. Dieser trat an Kohlhaas heran, um von ihm ein Grundstück zu erwerben, eine für den Golfplatz unerlässliche Liegenschaft. Kohlhaas war kein Freund dieser Sportart. Nach langem Hin und Her ließ er sich dann doch zum Verkauf überreden. Der Vizebürgermeister sagte ihm zu, die Liegenschaft bei Nichtrealisierung des Bauprojekts zu den gleichen Konditionen rückzuerstatten. Als das Golfplatzprojekt scheiterte, pochte Kohlhaas auf die Einhaltung des Versprechens. Da stellte sich der Vizebürgermeister jedoch taub. Ihm schwebte eine Umwidmung in Bauland vor, um ehrgeizige Bauvorhaben der Stadtgemeinde zu realisieren. Er bot Kohlhaas das Grundstück zwar zum Kauf an, doch zu einem Preis, der die ursprüngliche Summe um das Sechsfache überstieg. Das war für Kohlhaas ein Schlag ins Gesicht. Der Gerechtigkeitsfanatiker schäumte, verfasste Protestbriefe an die Stadtgemeinde, intervenierte bei maßgebenden Landespolitikern, schrieb glühende Leserbriefe. All seine Bemühungen fruchteten nichts. Die Gemeinde hatte ihn übervorteilt. Damit musste er sich abfinden. Es führte für ihn kein Weg zur Gerechtigkeit.

Oder doch?

An einem sonnigen Frühlingsmorgen Mitte Mai macht ein Pensionist die grausamste Entdeckung seines Lebens. Auf einem Waldviertler Golfplatz hat er eben den Golfball eingeputtet und beugt sich zum Hole hinunter. Erleichtert entfernt er den Ball und … erstarrt. Wie ein riesiger Wurm blinkt ihm ein „eingelochter“ menschlicher Finger entgegen. Schockiert meldet er den grausigen Fund der Polizei und den Verantwortlichen des Golfclubs. Die Ortspolizisten sind ratlos. Ein Kriminalfall freilich, wie geschaffen für den ausgefuchsten alten Bezirkskommissar Wallfred Allig und sein Team.

Vorerst tappen die Ermittler im Dunkeln. Klar ist sehr bald lediglich, dass der Finger einer Frau „gehört“. Es dauert ein paar Wochen, bis Sebastian Kohlhaas, Bewohner einer Weinviertler Kleinstadt, ins Fadenkreuz der kriminalpolizeilichen Ermittlungen gerät. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, als Kohlhaas sich eines Nachts unter mysteriösen Umständen aus seiner Heimatstadt abgesetzt hat. Kommissar Allig forscht nach. Kohlhaas ist den Bewohnern seiner Heimatgemeinde des Öfteren als Querulant und notorischer Kritiker politischer Entscheidungen aufgefallen. Man kennt ihn als einen, der sich in Leserbriefen und im Freundeskreis kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn riesige Bauvorhaben geplant sind. Jüngst erst wetterte er gegen ein Golfplatzprojekt seiner Stadtgemeinde. Ein ehrgeiziges Vorhaben, welches dann nicht realisiert werden konnte.

Über sein Privatleben ist so gut wie nichts bekannt. Angeblich hat ihn der Vizebürgermeister bei einem Grundstücksgeschäft über den Tisch gezogen. Eine Frau an seiner Seite gibt es offensichtlich nicht. Man munkelt über eine kurzfristige Internetliaison. Eines weiß man: Häufig macht er über Frauen abfällige Bemerkungen.

„In einer Männergesellschaft haben die Weiber nichts verloren. Die mischen sich überall hinein. Man müsste den Frauen ihre Goschn zupicken.“

Solche Sprüche äußert er vornehmlich in Kreisen seiner Sportfreunde am Tennisplatz und beim wöchentlichen Tischtennistermin in der Runde seiner Mitspieler. Eine seltsame Fähigkeit bewundern einige Kollegen an Kohlhaas: er kann ausgefallene Schüttelreime am Laufband rezitieren. Bekannt und von manchen geteilt ist seine geringschätzige Meinung über das Golfspiel.

 „Ich verstehe nicht, wie man sich auf einem Golfplatz reinen Gewissens bewegen kann. Wenn ich stundenlang spazieren gehen will, fällt mir was Besseres ein.“

Mitten in die Recherchen über das Leben des Abgängigen platzt wie eine Bombe die Entdeckung eines beschrifteten Zettels an einer Pinnwand in einer Wiener U-Bahnstation. Der Satz „Der Finger liegt im Nebenloch. Glaubst, ist die Frau am Leben noch?“ lässt bei Kommissar Allig die Alarmglocken schrillen. Die kurz danach eintreffende Nachricht vom Fund einer Frauenleiche mit abgeschnittenem Zeigefinger im deutschen Vogtland passt dann haargenau zu seinen bisherigen Resultaten.

Fazit: Kohlhaas – der Hauptverdächtige im aktuellen Kriminalfall!

Dies umso mehr, als Alligs Assistent eine Frau aufgespürt hat, die ehedem Ohrenzeugin von heftigen verbalen Ausfälligkeiten des offensichtlich nun in Wien untergetauchten Kohlhaas gewesen ist.

„Wie sich die Frauen an die Männer ranmachen, die Kohle haben. Lauter Nutten. Überall haben sie ihre Finger im Spiel. Man sollte sie ihnen abschneiden!“

Kohlhaas wird zur Fahndung ausgeschrieben. Der Kommissar vermutet, dass der Verdächtige in Wien mit Komplizen zusammenarbeitet. Einen solchen hat er womöglich vor Tagen auf dem Waldviertler Golfplatz befragt. Einen siebzigjährigen Schönling mit einer auffälligen Abneigung gegen Frauen. Eine nochmalige Begegnung mit dem eiskalten Greenkeeper ist für den Kommissar nicht möglich. Der Waldviertler ist ausgeflogen. Er treibt im Wiener Untergrund höchstwahrscheinlich Hand in Hand mit Kohlhaas sein mörderisches Spiel.

Jetzt ist im Kommissariat Feuer am Dach.

Und es kommt noch schlimmer. Im Wienerwald wird eine Frauenleiche mit einem abgetrennten Finger entdeckt. Gleichzeitig taucht in einer U-Bahnstation wiederum ein Zettel mit einem Schüttelreim auf. „Vom Rathaus ist die Dame fort. Was tat denn die Infame dort?“. Zu spät erfolgt die Einvernahme des Wiener Wohnbaustadtrats, dessen Sekretärin kürzlich nicht beim Dienst erschienen ist. Die Geliebte des mächtigen Stadtpolitikers, der umstrittene Bauprojekte gigantischen Ausmaßes plant und auf dessen Schreibtisch seit Kurzem ein Brief mit einem weiblichen Zeigefinger liegt: das Fingerglied der Toten aus dem Wienerwald.

Megabauten landauf landab plant auch der die Societyszene aufmischende Wiener Baulöwe. In einem von ihm arrangierten Gesellschaftsereignis will er die Interessierten über seine Bauvorhaben informieren. Dabei macht er sich ungeniert über eine junge Frau her, die – Teil des Ermittlerteams – undercover anwesend ist. Beim Stelldichein im Wald werden die Beiden von einem Maskierten überfallen. Der Baulöwe wird verwundet, die Frau kommt mit dem Schrecken davon. Der maskierte Mann entpuppt sich bei der Verfolgung als der Waldviertler Greenkeeper. Bei seiner Einvernahme wird ein Zettel zutage gefördert:

„Schafft die Pingpong-Dinger fort! Dann findet ihr den Finger dort.“ Ein gezielter Hinweis auf eine weitere Bluttat, die durch die Festnahme des Waldviertlers verhindert worden ist.

Kohlhaas hat mittlerweile Wien verlassen. Mit einer Pistole bewaffnet besteigt er den Rathausturm seiner Heimatstadt und lockt seinen Kontrahenten, den verhassten Vizebürgermeister, hinauf, um mit ihm abzurechnen. Zuvor jedoch erscheinen oben unerwartet zwei Touristen.  Der eine – ein Literaturprofessor – verwirrt Kohlhaas mit einem Rilke-Gedicht. Dabei löst sich aus der Pistole ein Schuss, welcher den Freund des Literaturexperten verletzt. Letztlich gelingt es dem Professor, Kohlhaas zu überwältigen und der Polizei zu übergeben.

Sebastian Kohlhaas verschwindet für Jahrzehnte hinter Gittern.

Drei Wochen nach der Festnahme auf dem Rathausturm wird in der Gemeindezeitung verlautbart, dass die Stadtgemeinde dem Bürger Sebastian Kohlhaas seine Liegenschaft zum ursprünglichen Kaufpreis rückerstattet.




Gert Esterle, geboren 1949 in Waidisch (Kärnten), Studium an der Uni Wien, Berufstätigkeit an den Tourismusschulen Modul in Wien (Deutsch, Geschichte, Politische Bildung, Rhetorik).

Nach seiner Pensionierung als BHS-Lehrer lebt er in Deinzendorf im Weinviertel. Er hat einige Kriminalromane verfasst sowie einen launigen Rückblick auf seine berufliche Tätigkeit in Wien („Modul. Eine Schwadronade“). Außerdem eine Liebesromanze („Felix und Felice. Eine erotische Annäherung“), Kurzgeschichten, Tiny-Stories und Minidramen.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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