Born to fake

Dr. Gabriele Schuster für #kkl57 „Selbstermächtigung“




Born to fake

München. Es sind immer noch 32 Grad, und sogar meine Baumwollbluse klebt am Körper. In einer lockeren Gruppe stehen vor dem großen Kino, in dem der Dokumentarfilm „BORN TO FAKE“ über meinen Bruder Michael, den Filmfälscher, uraufgeführt werden soll.

Ich bin nervös. Außer den beiden Regisseuren und meiner Fastschwägerin kenne ich niemanden persönlich. Erec und Benny hatten mich interviewt, einen ganzen Tag lang. Fragen gestellt über meinen Bruder, den Selfmadejournalisten, den Fälscher.  Was für eine Persönlichkeit sei er gewesen, was hatte ich mit ihm erlebt, und wie kam es dazu, dass er „Geschichten“ erfand, die er dann tatsächlich als „wahr“ an die Privatsender verkaufte? Manche Stories waren wirklich so gut, dass man sie für authentisch halten konnte. Andere waren so grottenschlecht, dass Stern TV hätte erkennen müssen, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen, und das war wirklich noch gelinde ausgedrückt! Sie haben alles unzensiert gesendet.

Als der Film beginnt, und ich meinen 2019 verstorbenen Bruder sozusagen live sehe, schnürt sich mir der Hals zu. Er wirkt so lebendig und so gegenwärtig.

Roland Berger beginnt: „Man betrügt niemanden, aber der Born hat alle betrogen!“

Dieser Satz wäre ein vernichtendes Urteil, wenn Roland ihn nicht dadurch entschärfen würde: „Er war ein ganz lieber Mensch, und die Geschichten waren doch lustig.“

Was für eine absurde Eulenspiegelgeschichte !!! Benjamin Rost

Es folgen einige von Michaels Beiträgen, die von Stern TV als Dokumentation ausgestrahlt wurden.

Das Publikum im Saal lacht laut.

Es stellt sich allerdings die Frage : “Was ist eine Dokumentation ? Wie wird sie definiert ? Hat mein Bruder das für sich selbst ganz anders interpretiert? Und wenn, warum hat er das getan ?“

Ein Dokumentarfilm ist ein Film, der auf nicht-fiktionalen, also tatsächlichen Begebenheiten, Ereignissen oder Personen basiert. Er versucht, die Realität mit verschiedenen Mitteln darzustellen, zu dokumentieren und zu interpretieren. Er erzählt keine erfundene Geschichten. Während der Dokumentarfilm versucht, die Realität darzustellen, ist er dennoch von der subjektiven Perspektive des Filmemachers geprägt, der auswählt, welche Aspekte der Realität er zeigt, und wie er sie präsentiert.

Mir kommt der Gedanke : „Dann hat Michael eigentlich gar nicht gefälscht, sondern seine subjektive  Perspektive hat die Objektivität überlagert ?“

Nun, man kann sich alles schönreden. Er hat es mit der Wahrheit nie so genau genommen. Doch was ist Wahrheit?

Gemeinhin wird die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabeals Wahrheit bezeichnet.

Michaels Gegenargument klingt für mich plausibel: „Was ist Wahrheit? Gibt es die überhaupt ? Was für den einen Wahrheit ist, kann für den anderen Lüge sein.“

Das Gericht sagte, seine angeblichen Tatsachenreportagen seien gefakt.

Ein Begriff, der in den Medien zum ersten Mal auftaucht.

Mein Bruder der Vater des Fakes?

Was ist Fake?: Schwindel, Fälschung etwas, das nicht real ist oder eine Nachahmung ist, die jemanden dazu bringen soll, zu denken, dass es real oder originell ist.

Michael scheint für alles eine für ihn positive Erklärung zu haben : „Wenn es kein Originalgibt, dann kann es auch keine Fälschung geben, ergo sind meine Filme keine Fälschung!“

Spielfilme sind fiktiv und basieren auf einer erfundenen Geschichte, während Dokumentarfilme auf der Realität basieren (sollten).

Sehr merkwürdig, dass die Privatsender nicht bemerkt haben sollten, dass Michaels angebliche Dokumentarfilme fiktiv waren. War Michael ein Aufklärer, der das Boulevard-System subversiv entlarvte, ein Opfer des Systems – oder schlicht ein stümperhafter Betrüger?

Auch dieser Dokumentarfilm kann keine endgültige Antwort darauf geben.

Dr. Eva Hohenberger vom Institut für Medienwissenschaften muss selbst lachen, als sie sagt : „Also, wenn man gutwillig ist, dann könnte man sagen, der war doch ein großer Aufklärer. Der Fälscher als Aufklärer!“

Na ja, so ein bisschen Wahrheit hatten die Filme inne : zumindest waren die Drehorte real. Ich habe den Keller meines Elternhauses vor Augen (Ort einer Geisterbeschwörung) und die Höhle in der Eifel gab es auch in der Realität( Ku Klux Klan – treffen). Und eigentlich hat er gar nicht gelogen. Er hat nur etwas Wichtiges weggelassen (Krötenleckergeschichte) und daher die Realität verschoben. 

Auf der Kinoleinwand werden verschiedene Beiträge Michaels abgespielt. Das Publikum ist amüsiert, aber auch nachdenklich. Wie konnte man nur so einen Schwachsinn senden. Wie konnte man das Fernsehpublikum nur für so einfältig halten ?

Ich höre mich sagen : „Er erzählte mir: die Sender wollen gerne  Bilder haben, auch wenn es zu einem Vorfall keine Bilder gibt, und wenn der Sender die haben möchte, dann können wir ihm auch welche liefern.“

Ein Argument, das vor Gericht eine Mitschuld der Sender deutlich machte !

Claudia erinnert sich: „Wenn er dir irgend etwas erzählen wollte, dann hat er diesen Blick

gekriegt, und dann hat sich seine Stimme geändert.“

Es werden Sequenzen aus einem Kriegsgeschehen eingeblendet, die kleinen abgemagerten, weinenden Kinder zeigen. Claudia, die damals seine Assistentin war, erzählt, dass sie diese Bilder eigentlich nicht zeigen wollten, aber die Redakteure wollten genau solche Bilder haben!

Mein Bruder geht unter Aufblitzen von Kameras durch einen Vorraum des Gerichtes, verschmitzt in sich hinein lächelnd.

Ich muss lachen, aber da sehe ich, dass er Handschellen trägt. Erschrecken und Empörung wallen in mir auf.

Trotz der bewiesenen Mitschuld der Privatsender lautete das Gerichtsurteil : 4 Jahre Gefängnis!

Wir waren damals überrascht und schockiert. Für uns war er ein „Bauernopfer“. Für mich ist er das immer noch. Das Urteil hat ihm beruflich und privat „das Genick gebrochen.“

Als der Film zu Ende ist, bin ich einfach nur traurig.

Ein paar Tage später schiebe ich den USB-Stick ein, den ich unter Michaels Nachlass gefunden habe. Auf dem Desktop erscheint: „Michel der Lügner“. Es ist ein unvollendetes Manuskript. Es beinhaltet unglaubliche Geschichten für Kinder, von denen man nicht weiß, ob sie real oder erfunden sind. Typisch mein Bruder. Er hatte leider keine Zeit mehr sein Buch zu vollenden.

Früher haben wir uns gegenseitig unsere Geschichten zum Lesen gegeben.  (Die Fantasie müssen wir beide von unserer Mutter geerbt haben.) Unsere Kurzgeschichten waren Erzählungen, die wir uns ausgedacht hatten. Sie sind fiktionale Werke, auch wenn sie Elemente der Realität enthalten.

Ich sehe Michael vor mir und ihn lachend sagen : „Also diese skurrile Story von dir ist wirklich gut.“

Und ich denke … ja , das werde ich …. ich werde seine Geschichten ergänzen und sein Manuskript zu Ende schreiben. Das bin ich ihm schuldig.

Ich tauche ein in seine Geschichten, weiß manchmal selbst nicht, ob sie der Wahrheit entsprechen oder geschwindelt sind. „Gelogen“ hat so einen schlechten Beigeschmack, denn ein Fünkchen Wahrheit ist in allem.

Ich ändere seinen Prolog und schreibe ein Expose´.

Ich schreibe und schreibe und schreibe.  Manchmal verschwimmen Wahrheit und Wirklichkeit.

„High sister Gaby“, grinst Micha spöttisch, „gut machst du das.“

Und mein Herz wird leicht.




Dr. Gabriele Schuster

Jahrgang 1950, nach dem Abitur zwei Jahre Schiffsstewardess auf Großer Fahrt, mehrere Semester Ethnologie, Altamerikanistik und Archäologie, dann Studium der Veterinärmedizin an der FU Berlin, 1984 eigene Kleintierpraxis, verwitwet, zwei Söhne, Ruhestand seit Sommer 2018.

Hobbys:Schreiben, Malen (Tierbilder in Acryl) 

Veröffentlichungen in zahlreichen  Anthologien und Zeitschriften, ein eigenes Buch über BoD






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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