Martin A. Völker für #kkl57 „Selbstermächtigung“
Falsch abgebogen
Wie hältst du es mit Goethe? Keine triviale Frage ist das, sondern eine Welt-, eine Existenzfrage, weshalb ich sie mir oft stelle. Dem Jupiter in Weimar hätte dies sicherlich gefallen. Was für eine schöne Schmeichelei, was für ein Umtänzeln seiner Eitelkeit! Mir hingegen geht es um einen Grundzug bei ihm, nicht um die mögliche Vollkommenheit seiner Werke. Dieser Grundzug offenbart sich beispielsweise in seinen Prosasprüchen. „Die Meisterschaft“, so heißt es dort, „gilt oft für Egoismus.“ Hier schreibt und denkt einer, der sich selbst als Meister erkannt hat, sich als ein Riese zu inszenieren versteht, und der, weil Meisterschaft viel Zeit beansprucht, für andere kaum erreichbar ist. Goethe entkräftet den Vorwurf, welchen er häufig gehört haben mag, indem er ihn als Unwissenheit, vielleicht sogar als Dummheit entlarvt. Könnten nämlich andere das Meisterhafte erkennen, würden sie den dafür nötigen starken Selbstbezug nicht als Selbstsucht anprangern. Die Aufwertung der eigenen Existenz wie des persönlichen Tuns wird mit der Abwertung der äußeren Verhältnisse, zu denen die anderen Menschen gehören und niedersinken, hergestellt. Der Meister blickt nach vorn über die weite Landschaft, aus der ihm niemand entgegenblickt, weil sich alle unterhalb seiner Augenlinie bewegen, der Blick also über ihre Köpfe hinweggeht. Die anderen Menschen besitzen keinen Wert an sich, denn ausschließlich der Meister verkörpert ihn in Reinform, sie dagegen bilden zusammen lediglich die örtlichen und zeitlichen Umstände, die den Meister emporragen lassen oder hemmen. Diese Umstände benennt Goethe in einem zuvor formulierten Spruch als „Zeitalter“. Während der Meister ein Meister bleibt, bleiben die übrigen Menschen nicht einmal Hinz und Kunz, was ja bereits eine Herabwürdigung darstellte, sondern sie werden zu einer Art Störungsgeflecht erklärt. „Zu allen Zeiten“, so Goethe, „sind es nur die Individuen, welche für die Wissenschaft gewirkt, nicht das Zeitalter.“ Das Zeitalter, wie Goethe es versteht, ist ein anhaltend gefährliches, ja mörderisches, weil es einst Sokrates vergiftet und Jan Hus verbrannt habe. Solange andere Menschen den Meister nicht durch Nähe und Ansprüche bedrohen, bleiben sie für ihn unbedeutend. Ihre wesentliche, ihre einzige Aufgabe besteht darin, den Meister nicht zu stören, sie unterstützen ihn in seiner einsamen Produktivität, schirmen ihn ab, verehren ihn, lieben ihn und müssen doch auf Gegenliebe sowie auf Ebenbürtigkeit verzichten. Diesen Gipfel der Selbstermächtigung scheint Goethe überall besteigen zu wollen, wie eine ganze Gipfelkette durchzieht die Selbstermächtigung sein Werk. Als Künstlermanier ließe sich dieses Verhalten durchaus anerkennen. Allerdings toleriert ein Meister selten einen weiteren Meister neben sich, weshalb Goethe an anderer Stelle die eigene Meisterschaft überindividuell als Klassisches herausstellt, als das Gesunde überhöht und damit unangreifbar macht. Anderes kann sich höchstens, quasi als befleckte oder gescheiterte Meisterschaft, als das Romantische und Kranke hervorarbeiten, während die meisten Dinge und Personen noch darunterliegen und die störende, einengende, zermalmende Rahmung des Zeitalters bilden. Die eigene Lebensqualität zeigt sich im Umgang mit diesem Problem Goethes. Möglicherweise hast du, habe ich auf dem Weg zur Mündigkeit die falsche Abbiegung genommen, und wir befinden uns nun ebenfalls in der Sackgasse einer solchen Form der Selbstermächtigung. Was könnte die Alternative sein? Demut ist eine solche. Demut stellt eine Form von Mut dar. Demut ist jener Mut, den es braucht, um dem Impuls der Selbstanmaßung zu widersprechen, um die anschwellende Dominanz zu dominieren und zu bändigen. Nachgiebigkeit stellt eine weitere Alternative zur Selbstermächtigung dar. Wer sich immerzu durchsetzt und seinen Willen bekommt, verbleibt eben bloß im eigenen Fahrwasser, während diejenigen, die nachgeben, stets neue Erfahrungen machen, was für die eigene Entwicklung unverzichtbar erscheint. Indes sind Demut und Nachgiebigkeit von Unterwerfung scharf zu trennen. Im Umgang mit Steinen war Goethe übrigens eine Koryphäe. Als kleinen bösen Scherz könntest du dies missverstehen, wenn wir nicht alle die Aufgabe hätten, den Goethe in uns zu finden, zu befragen und zu besänftigen.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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