Peter Manhard für #kkl57 „Selbstermächtigung“
„Die hohe Kunst“
Ich sehe mich als einen Menschen, der mitten im Leben steht. Mit beiden Beinen und fest auf dem Boden. Allerdings – und das ist ein Umstand, der mir natürlich im tiefsten Inneren meines Seins widerstrebt – bin ich auch einer der Sorte, die sich von ihrem Vorgesetzten gerne etwas sagen lassen. Mein Chef ist mein Leittier. Ich folge seiner Linie, und was er sagt, hat für mich Gewicht.
So war es auch, als Herr Leitner (mein Chef) mir jüngst nahelegte, ich müsste mich beruflich wie persönlich mehr in Richtung der »Selbstermächtigung« orientieren. Herr Leitner meint es gut mit mir. Und da ich mir dieses Umstandes ständig gewahr bin, folgte ich seinem Ratschlag und fand mich nach mehrtägiger, einschlägiger Recherche in einem Loft ein, das kahl weiß gestrichen und völlig unmöbliert war.
Ein Zimmer ohne Möbel, aber voller losgelöster und scheinbar vollkommen selbstermächtigter Körper. Sitzend vor einem weißen Flip-Chart, auf dem mit schwarzem, vermutlich völlig selbstermächtigtem Marker Folgendes aufgeschrieben war: ».«
Plötzlich fühlte ich mich irgendwie ein bisschen … freier. Ein wenig blöd und kindisch zwar zugleich, aber eben auch losgelöst von meinen alten Sorgen und meinem eingeschränkten Ich.
Ich wollte die offensichtlich Meditierenden nicht stören, schritt mit breiten Beinen über sie hinweg und kam mir zusätzlich in meinem Dandy-Tweed-Outfit ziemlich overdressed vor. Alle anderen hier trugen breite und lange Kimonos. Oder Bademäntel. Oder lange Geschirrtücher, die sie sich mit kunstfertigen Schlingen um die Körper drapiert hatten.
Eine Stelle in der Mitte des Raumes schien wie für ich freigehalten. Dort kniete ich nieder und hockte mich absichtlich nicht in den Schneidersitz weil der für meine müden und brüchigen Gelenke nicht mehr recht vorteilhaft schien.
Ich setzte mich hin und ließ los. Ich wollte frei werden. Ich wollte mich selbst ermächtigen. Ich wollte es tun – und zwar für Herrn Leitner. Herr Leitner sollte stolz auf mich sein.
Nichts tuend und möglich nichts denkend, fügte ich mich in das Szenario ein. Einmal tief Luft geholt, den Atem lange in den Lungen gespeichert, damit die Negativenergie meines Wahren Ichs und die schlechten Schwingungen meines Geistes so richtig durchgewaschen werden und den ganzen Schmutz mit einem kräftigen Ruck wieder aus meiner Brust gestoßen. Ich fühlte mich gut, ich lernte schnell. Ohne großes Aufsehen, hatte ich mich nahtlos in die Gruppe eingefügt.
Da musste ich niesen. Mit einem lauten und feuchten Knall prustete ich Speichel, Bakterien und Rotzpartikel quer durch das Zimmer. Mitten in die Stille. Und ich erwartete mir Schimpf und Schelte, zumindest jedoch bitterböse Blicke der Anderen selbstermächtigten Seelen im Raum.
Aber: es kam anders. Applaus schwelte auf. Die Teilnehmer des Kurses klatschten Beifall und ich quittierte diese Aufmerksamkeit und die aufmunternde Geste mit einem sanften Lächeln und einem zustimmenden Nicken.
Dann stupste ich meinen direkten Sitznachbarn an.
»Warum haben die denn geklatscht?«, wollte ich von ihm wissen.
»Namaste«, sagte er, während er die eine, zur Faust geballten Hand, mit der Fläche der anderen umwickelte. »Du hast geniest, erleuchtete Seele.«
»Ja« sagte ich. »Und ich habe damit gerechnet, dass man mich dafür mit faulen Eiern bewirft.«
»Aber warum«, sagte mein Gegenüber. »Niesen ist Tun, aber auch Lassen.«
Ich nickte wiederum. Ich verstand nicht, aber ich nickte.
Ich ging wieder in mich. Dann wandte ich mich wieder meinem Sitznachbarn zu.
»Was ist dieses ».« auf der Tafel?« wollte ich wissen.
»Das ist Sensei Null«, antwortete mir der Mann wie selbstverständlich. »Er ist unser Meister.«
»Ja«, wandte sich auch der junge Mann, der aussah wie ein Student der Medizin im vierzehnten Semester, zu uns um. Er schien unseren kurzen Diskurs mitverfolgt zu haben. »Das ist Sensei Null. Und er sagt uns, dass das Nichtstun dort beginnt, wo das Nicht-Nichtstun endet.«
Ich nickte.
Auf meiner anderen Seite begann plötzlich eine junge Dame, sichtlich hochschwanger, zu schluchzen.
Auf meinen Knien kauernd, beugte ich meinen Oberkörper vorsichtig zu ihr hinüber. »Was ist los mit Ihnen?«, flüsterte ich.
»Ich«, stammelte sie leise mit tränenerstickter Stimme, »ich habe gerade bemerkt, dass ich unbewusst atme. Das ist das Ende vom Nichtstun«. Dann schluchzte sie noch intensiver und zog die Nase hoch. Noch etwas perplex ob der eigenartigen Situation, spürte ich, wie mir ein Finger von hinten auf die Schulter stupste.
Etwas verstört drehte ich mich um. Dort saß ein Mann, etwa in meinem Alter. Im Schneidersitz.
»Verzeihen Sie, mein Herr«, flüsterte er. »Aber sie wirken mir sehr weise. Und vertrauenswürdig. Wissen Sie, ob man für´s Nichtstun auch eine Teilnahmebestätigung bekommt?«
Ich gebe zu – ich wusste es nicht.
Was ich weiß ist, dass, als ich an diesem Tag nach Hause kam und endlich meine Beine auf die Couch legen konnte, ich einen Beitrag auf meinem Social Media-Account absetzte. Ich fühlte mich so unglaublich frei und freute mich so sehr darauf, Herrn Leitner von meinen Erfahrungen und meiner persönlichen Weiterentwicklung zu berichten, dass ich ins Handy tippte: »Heute den ganzen Abend nichts getan. Life´s Changing.«
Der Beitrag ging viral. Und bescherte der Welt einen neuen Trend.
Es gibt keine Vita über den Autor, da der Autor lieber anonym bleiben möchte. Website und Social Media-Auftritte sind im Entstehen. Bei Interesse oder Fragen, Kritik bzw. Anregungen, sollen sich interessierte bitte an die Mail-Adresse: writer@peter-manhard.com wenden.
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