Tom Scheinpflug für #kkl57 „Selbstermächtigung“
45 Minuten
- Zwielicht (17:55 – 18)
- Der Mord (17:00–17:10)
- Kälte (17:10 – 17:15)
- Wahnsinn (17:15 – 17:45)
- Die Folge (17:45–17:55)
Nur weg von hier. Raus aus Eden County. Sie werden sagen, es war Mord. Mord! In diesem Provinznest, am helllichten Tag, an einem rechtschaffenen Christenkind! Das werden sie sagen. Und damit würden sie nicht Unrecht haben. Er sah sie noch vor sich, die im Schock des Todes verglasten Widderaugen. Die zitternden, tintengefärbten Finger an der knöchernen Hand. Die Leichenstarre wird bestimmt schon eingesetzt haben, dachte er. Die gekrümmte Haltung eines leblosen Körpers, makaber entstellt und endgültig versteinert. Ein unwürdiger Tod, dachte er. Aber welche Wahl war ihm geblieben? Letztlich eben doch nur ein atmendes Hindernis, ein lebendig gewordener, sich schlängelnd auf ihn zubewegender Fallstrick, die tödliche Gewissheit seiner eigenen Verurteilung.
Er hustete schwer. Körniger Staub hatte sich während der Flucht in seiner Lunge abgesetzt. Er würgte auf und spuckte ein Rinnsal blutigen Speichels in den Straßengraben. Dann hob er den Kopf und blickte auf die Allee aus Pappeln, die, eine bescheidene Landstraße rahmend, den Weg aus der Stadt hinaus bot. An den Bäumen, die ihm am nächsten standen, hingen vier Männer. Faulende Mahnmäler, Überreste der Lynchjustiz. Die dünnen Pappeläste wurden von den schweren Früchten in die Tiefe gebogen, sodass die Füße der Gehenkten beinahe den Boden berührten. Er hätte sie etwa in seinem Alter geschätzt, wobei die Versengung und Verwesung diese Einschätzung bereits erschwerten. Er sah sich selbst dort an einem solchen Strick, aufgeknüpft und eingereiht. Verbrannt und vergessen. Für einen kurzen Augenblick meinte er, es wäre nur gerecht. Dann lief er weiter.
Die Sonne begann zu sinken. Irgendwo schlug es sechs Uhr.
Es begann eine Stunde zuvor, als Abraham auf den von der Mittagshitze geleerten Dorfplatz von Eden County trat. Die Turmuhr hatte soeben fünf Uhr geschlagen, als Sheriff John Brown aus einer anliegenden Bar auf den Vorhof des Kirchplatzes fiel, sich schimpfend wieder aufrappelte und stolpernd auf den Kirchturm zuwankte, um auf offener Straße gegen die einzige Kirche des Ortes, der St. Michaels Church, zu urinieren. Dabei pfiff er sichtlich vergnügt ein in der Gegend bekanntes Sklavenlied vor sich hin. Er musste es von den Flüchtigen der Red River Plantation aufgeschnappt haben, bevor er die vier Anführer des Ausbruchs den ihm unterstehenden Deputies übergab. Ein gutes Dutzend war an dem Tag geflohen, doch die Übrigen lagen bereits, sorgsam aufgestapelt wie Brennholzscheite, die spröde Haut mit Bisspuren und Platzwunden verwüstet, im Hinterhof der Polizeistation.
Abraham, ein dürrer Sierra-Eremit, war in den Ort gekommen, um seine Vorräte aufzufüllen, bevor er weiterzog. Als er den beschaulichen Kolonialwarenladen verlassen hatte, ließ er seinen Blick über den Platz schweifen: Einige Kinder spielten in den Pferdetränken. Eine alte Frau kniete auf den Stufen zu ihrer Veranda und betete. Sein Blick flüchtete auf den schattigen Vorplatz der St. Michaels Church und, ohne gleich zu verstehen, was er dort sah, ging er mit festem Schritt auf den schwankenden Sheriff zu.
Als dieser sich erleichtert hatte, die zarte Melodie noch auf den tabakgelben Lippen, begann er sich schwerfällig umzudrehen, wobei er Abraham am anderen Ende des schattengerahmten Vorplatzes nur anhand seiner schwimmenden Konturen bemerkte. „Bist du Christ, Made?“, knurrte Brown, wobei Erbrochenes in schlammbraunen Schlieren aus seinen Mundwinkeln floss. „Nein Sir“, antwortete Abraham wahrheitsgemäß. Der Sheriff grinste wölfisch, seine wasserblauen Augen funkelten bösartig. „Dann ist das auch keine Sünde.“ Im Rausch taumelnd versuchte er ungeschickt nach seiner Waffe zu greifen und stieß einen fürchterlichen Fluch aus, als sie ihm aus der Rechten glitt und in den Staub fiel. Ohne die kleinste sichtbare Veränderung in seinem Gesicht, griff nun auch Abraham in seinen vom dunklen Staubmantel verhüllten Holster. Er hob die Waffe, zielte vor sich, atmete in unveränderter Ruhe aus und schoss in einem Moment übernatürlicher Stille durch Stirn, Herz, sowie beide Schulterblätter des Sheriff John Brown.
III.
Die erbarmungslose Hitze hatte den Platz versteinert, die vertrocknete Luft stand starr und unbeweglich. Seltsam erleichtert schloss Abraham die Augen. Er spürte seine Glieder erschlaffen und nahm beseelt wahr, wie seine vernarbten, vom Staubmantel entblößten Unterarme trotz der hinabbrennenden Wüstensonne von einer kühlenden Ruhe durchflutet wurden. In der Schwärze seines Blicks sah er ihn noch vor sich liegen: Die sich vergrößernden Flecken schlammigen Blutes auf seiner Provinzuniform, das Schakalsgesicht des Toten verkrampft und grotesk verzerrt mit dem ziellosen Blick der Ewigkeit. Er bemerkte, wie sich sein Mund zu einem selbstgerechten Grinsen verzog. Er wusste, dass, wenn ihn jemand so sah, er nicht mehr zu retten sein werde. An ihm haftete jetzt eine Art eisiges Miasma, ein Nebel aus gefrorenem Dampf, vor dem jeder erzittern müsse, der diesem Richter und Henker in verhüllter Person entgegentrat.
Fünf Minuten vergingen, bis der Viertel-nach-fünf-Schlag der Turmuhr den heftig erschaudernden Abraham aus seinem Bann befreite. Der Platz hatte sich währenddessen mit Schatten gefüllt, die aus den anliegenden Häusern geströmt kamen. Es wurde entsetzt auf den Leichnam gestarrt oder sich vereinzelt von der Gruppe gelöst, um irgendwohin zu laufen, irgendjemanden zu benachrichtigen, irgendetwas diesem Akt der selbstgerechten Gewalt entgegenzuhalten; allerdings ohne es zu wagen, sich dem Mann im Staubmantel mit der wabernden Aura undurchdringlicher Kälte zu nähern. Ruhigen Schrittes machte Abraham auf dem Absatz kehrt und verließ den Platz.
IV.
Bemüht gefasst entfernte er sich immer weiter und dabei vollkommen ziellos von der Dorfmitte, vorbei an den Zuchthäusern und zerschossenen Lazaretten, die sich aufgrund der draußen verschmelzenden Verzweiflungsschreie hörbar kaum voneinander unterschieden. Auch der kriechende Odem klinischer Präzision, die Wolken aus alkalischen Lösungen, die durch die Schlitze unter den fest verschlossenen Türen krochen, einten die Einrichtungen und nicht selten sah man ein Mitglied der ortsansässigen, ebenso arrivierten wie sadistischen Chirurgenloge vom einen in das andere huschen. Er ließ das Rathaus, einen prächtigen Quader im Kolonialstil, hinter sich und musste unwillkürlich an den Bürgermeister denken, der um diese Zeit natürlich längst nicht mehr arbeitete. Ein gebildeter, aber arbeitsscheuer Philanthrop, dessen Ruf nur kurzzeitig Schaden nahm, als er in betrunkener Rage einer Prostituierten den Schädel mit seinem Schöffenhammer zerschmetterte.
Abraham begann zu rennen. Ihm wurde immer wärmer. Immer schneller jagte er über die Landstraße hinweg durch die stehende Hitze eines ewigen Halb-Sechs-Uhr-Nachmittags. Er vernahm Gewehrschüsse in einiger Entfernung, die entweder von einem Raubmord oder einer amtlichen Hochzeit stammen konnten. Seine Schläfen glühten und er spürte, zum ersten Mal an diesem Tag, die entsetzliche Schwere des Revolvers in seiner schwieligen Hand. Er wusste, dass er sein Schicksal unlösbar mit der Waffe verbunden hatte.
V.
Keuchend erreichte Abraham den Stadtrand und fand sich nun, desorientiert und in dem Bewusstsein, rettungslos verloren zu sein, vor einer abgeschiedenen Poststation stehend. Das Läuten der Turmuhr schallte über die Ebene. Er vergewisserte sich der Waffe unter seinem Mantel und trat in bebendem Schritt durch die Vordertür. Die greise Rezeptionistin richtete den silbertrüben Blick auf den Eingetretenen und betrachtete ihn ausdruckslos. Dann erhob sie sich langsam vom Stuhl, wobei das Rasseln ihrer rheumatischen Fingerknöchel ihm wie ein entsetzlicher Klagelaut vorkam. „Sag nichts!“ schrie er der in Fieberhitze verschwimmenden Erscheinung zu. Er wusste, was er zu tun gezwungen sein würde, keine Engelshand würde ihn noch zurückhalten können. Der Gedanke an die Folgen der letzten Dreiviertelstunde verknotete seine Gedärme, und er spürte eine Implosion ätzender Blasen, die sein Inneres schmelzen ließ. Abrahams Raserei, diese gehetzte Todesangst eines angeschossenen Tieres musste sie am Zittern seiner Mörderfinger bemerkt haben und bekam sie sodann im lohenden Phosphor seiner Augen bestätigt. Abraham glaubte sein Herz durch seinen Brustkorb brechen zu spüren. Seine schuldvergifteten Eingeweide lösten sich auf und er sah nur zu, wie sich seine bewaffnete Rechte auf Anschlag hob.
Es war fünf vor sechs. Die staubige Straße vor dem Postgebäude begann plötzlich zu vibrieren: Eine Gruppe Kolonialdragoner preschte in Richtung Eden County. Im Donnergrollen der Hufe bemerkten die Reiter nicht, dass sich, keine 22 Meter neben ihnen ein Schuss löste und gleich darauf eine verhüllte Gestalt die Hintertür der Poststation aus den Angeln trat, um in die schwirrende Spätnachmittagshitze zu flüchten. Erst einige Stunden später würde man die Rezeptionistin in erschrockener Haltung über den Briefen und Dokumenten brütend finden, mit einem kreisrunden Einschussloch zwischen ihren getrübten Widderaugen.
Mein Name ist Tom Scheinpflug. Ich bin 24 Jahre alt, lebe seit 2019 in Bonn und studiere dort Geisteswissenschaften. Seit 2023 veröffentliche ich unregelmäßig Prosa und Lyrik. Zuletzt wurde ich in die Longlist des Hanns-Meinke-Preises für junge Lyrik 2025 aufgenommen und warte außerdem auf die Publikation eines Prosatextes von mir in der kommenden 39. Ausgabe der Anthologie „Lyrik und Prosa unserer Zeit“ des Karin Fischer Verlags.
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