Gudrun Latten für #kkl57 „Selbstermächtigung“

Belichtungszeit
Schattengekühlte Haut trifft
Auf sommersonnenerhitzten Asphalt
Befremdender Abdruck auf der Straße
Schattenriss in fahl leuchtendem Rahmen
Finsteres Zerrbild meines Körpers
Zeichnet
Erstes Laternenlicht des Abends
Kantige Konturen auf starr steinernem Gesicht
Frühe Falter zerflattern die zerbrechlichen Umrisse
Konturen tanzen an den Rändern
Wie Tentakeln umkränzen Insektenbeine meinen Kopf
Monströse Facetten entfalten sich
Ich sitze neben meinen mottenzerfressenen Körpergrenzen
Machtlos
Verliere mein Profil
Vulnerable Oberfläche im Nachtleuchten
Grelles Licht schärft die Linien der Schattenhaut
Zugleich die Präzision der Zerstörung
Genau an der Kante entlang
Plötzliche Autoscheinwerfer wischen meine Silhouette vom Boden
Werfen sie für wenige Sekunden in Übergröße hinter mich an die Wand
Wie Klauen ergreifen mich dort die dürren Äste eines Baumes
Reißen mich in die Dunkelheit
Reifen quietschen
Eine Autotür öffnet sich hektisch
Die ängstliche Stimme meines Mannes schreit gegen die schwarze Wand an:
„Bist du das?“
Ich schließe die Augen und atme erleichtert auf.
„Nein.“
Nur Schatten.

Seelenlandschaft I
Grenzgang
Blitzende Blicke wie Suchscheinwerfer
Kreisen am gedankenverhangenen Horizont
Ziehen Schatten der Vergangenheit hinter sich her
Nicht beschrittene Pfade verlaufen sich im Zwielicht
Dämmernde Ungewissheit
Der Kreislauf des Lichts hält mich gefangen
Beängstigende Gratwanderung
Eng umschlungen von langgliedrigen Schemen
An der Schwelle zur Dunkelheit
Ein einziger Fehltritt
Lässt Gedanken aufschrecken wie einen Schwarm Vögel
Ich spüre meine Lungenflügel zittern
Inneres Erbeben
Treffsicherer Augenaufschlag öffnet einen jähen Abgrund
Lautloses Einbrechen in die Gedankenschlucht
Staub stürzender Gesteinsschichten verhüllt wie ein Schleier
Tief begrabene Sorgen
Trümmer meines Lebens
Ragen spitz auf wie antike Ruinen
Erhellt von bedrohlich schimmerndem Augenlicht
Endlich kann ich mich aus dem Sog der dramatischen Rückschau befreien
Meine Hand drückt geistesgegenwärtig den Schalter
In gleißend weißer Helligkeit verblasst das Bild
Seelenlandschaft II
Im Dunst dämmern langgliedrige Schatten der Vergangenheit
Weisen mir den Weg zu nicht beschrittenen Pfaden
Dehnen sich aus zu einem endlosen Wegegeflecht
Unsichtbares und für alle Ewigkeit unbegehbares Netz
Unbekannte Versäumnisse ruhen dort. Schweigen mich an aus finsterer Ferne.
Nie werde ich erfahren, was dort geschehen wäre.
Fragen an nicht gelebte Stunden tauchen auf
Erstarren unbeantwortet vor meinem inneren Auge.
Hypnotisierende Stille beherrscht mich.
Dunkelheit verschlingt mein spätes Augenlicht.
Meine Augen sind kleine schwarz klaffende Löcher im milchigen Mondschein.
Ich schlage die Augen nieder und Vergangenheit flutet meinen Kopf.
Löscht die Gegenwart
Unerfüllte Hoffnungen sind die Quelle meines ersten Tränenflusses
Spült lange vergessene Momente aus tiefem Sediment hervor
Wehmut sammelt sich in Gefäßen
Überwältigt mich mit untragbarem Gewicht
Bald füllen sich weitere Tränenkanäle
Finden fruchtbaren Boden in der Tiefe meiner Seelenlandschaft
Werden an meinen Schwächen entlang geleitet
Umspülen den Fuß meines Schuldenberges gewachsen aus Eifersucht
Driften ab in die Brandung der herznahen Brustenge
Blass schimmernd schweigen verdrängte Verlangen unter sanft wogenden Wellen
Gespiegelte Blicke aus rotgeäderten Augen lindern das Leiden
Dort wartet bereits der sichere Hafen des Vergessens
Langsam verebbt meine Trauer
Endgültig ertränke ich meine Erinnerungen im Tränenfluss
Gudrun Latten hat einen Universitätsabschluss in Kunstgeschichte und Geschichte. Seit 2014 hat Gudrun Latten ihre Fotografien und Videos in Venedig (Italien), New York (USA), Los Angeles (USA), Paris (Frankreich), London (Großbritannien) und anderen Ländern gezeigt. Sie wurde für verschiedene Interviews, Kataloge und Zeitschriften ausgewählt (international). Sie hat mehrere Essays und Texte im wissenschaftlichen Bereich der Kunstgeschichte und im Bereich der Kunstkritik veröffentlicht. Die erste selbständige Buchveröffentlichung erfolgte 2017 mit “Der große Farbstrich. Eine Novelle”. Derzeit widmet sie sich mit neuen Texten, Bildern und Videos vor allem den Themen Identität, Gender, Träumen und psychischen Problemen.
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