Josephine Straub für #kkl57 „Selbstermächtigung“
Subjekt ist Bild, ist Rauschen, ist Stubenfliege, ist Ich
Montag, 22.47 Uhr, Kamera 5: Subjekt sitzt aufrecht. Keine Bewegung seit 14 Minuten. Pupillen reagieren nicht auf Lichtimpuls. Keine Reaktion auf akustische Reize.
Auswertung: Die Kameras sind installiert, die Aufzeichnung beginnt. Abgeschottet von der Außenwelt, nur ich in meiner Wohnung mit den Kameras. Ich setze mich der Beobachtung aus. Ich weiß, dass ich beobachtet werde. Ich weiß, dass ich es bin. Aber ich weiß nicht, wer ich bin, wenn ich mich nicht sehe. Ich bin Subjekt.
Dienstag, 11.59 Uhr, Kamera 3: Subjekt kniet auf dem Fußboden, hält ein Messer in der Hand.
Dienstag, 12.01 Uhr, Kamera 4: Subjekt kniet auf dem Fußboden, schneidet mit einem Messer eine Tischdecke in Streifen.
Dienstag, xx.xx Uhr, Kamera 0: Keine Kamera sieht, warum Subjekt das tut.
Auswertung: Das Subjekt tut nicht, was es sollte. Es liefert ein unpassendes Bild. Die Tischdecke war weiß, jetzt ist sie Streifen. Ich erschaffe sie neu. Ich sehe sie. Sie sieht mich nicht. Ich sehe mich durch sie. Ich bin nicht ich. Ich bin Subjekt. Subjekt ist Bild.
Mittwoch, 04.12 Uhr, Kamera 1: Subjekt ist xxx. Ist. Ist. Ist. xxx. Is. Is. Xx. I. I. xx. Bildstörung. SubjektSubjekt. Subjekt doppelt sichtbar. Störung. Bildausfall. Kein Zugriff auf Daten. Speicher beschädigt. Subjektstatus unbekannt.
Auswertung: Ich bin da. Ich werde beobachtet. Ich bin nicht erkannt. Ich sehe ein Bild von mir. Ein Rauschen. Filmriss. Die Speicherkarte ist defekt. Ich bin nicht gespeichert.
Ich bin Subjekt. Subjekt ist Bild. Subjekt ist Rauschen.
Donnerstag, 14.52 Uhr, Kamera 6: Fremdes Subjekt betritt den Raum. Keine Übereinstimmung mit bekannten Daten. Subjekt fliegt durch den Raum, kreist über dem Tisch. Kein weiteres Verhalten registriert.
Auswertung: Ich werde beobachtet, ich beobachte mich. Wo kommt sie her? Ich werde gesehen, ich sehe mich. Ich werde nicht gedacht, ich denke mich. Ich bin Subjekt. Subjekt ist Bild. Subjekt ist Rauschen. Subjekt ist Stubenfliege.
Freitag, 15.18 Uhr, Kamera 12: Subjekt schaut in die Kamera. Keine Emotionen erkennbar. Keine Bewegung. Keine Reaktion.
Auswertung: Subjekt schaut in Kamera 12. Sie beobachtet mich, aber sie sieht mich nicht. Ich beobachte sie. Wer sieht wen? Ich sehe sie. Alle beobachten mich. Jeder glaubt mich zu sehen und sieht mich doch nicht. Ich beobachte mich durch sie. Sehe ich mich? Ich bin Subjekt. Subjekt ist Bild. Subjekt ist Rauschen. Subjekt ist Stubenfliege. Subjekt ist Ich.
Josephine Straub, geboren 1987, hat Psychologie und Philosophie studiert. In ihren literarischen Arbeiten verbindet sie analytisches Denken mit poetischer Präzision. Ihre Texte widmen sich den großen Fragen des Menschseins – von Identität und Vergänglichkeit bis hin zu metaphysischen und ontologischen Grenzbereichen. Schreiben ist für sie eine Form der existenziellen Erkundung.
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