Artia

Jona Till für #kkl57 „Selbstermächtigung“




Artia (vier Väter)


VATER 1

Ch-ch-ch-ch-changes

Turn and face the strange

singt Bowie aus den Lautsprechern und gedämpft klingt es durch die geschlossene Zimmertür. Die hat Fenster. Da schaut der Vater durch. Sein Sohn hasst das.

Klopf, Klopf, Klopf?

Kein Widerstand.

Langsam öffnet er die Tür. Auf dem Nachttisch liegt ein Taschenatlas für Pflanzen, Artia Verlag. Der Boden voll mit Salzstangen, Mathehefter, Fußballkarten. Hier wohnt halt doch noch ein Kind, egal, wie erwachsen es tut.

Alles ist okay. Das hat die Betriebsärztin auch gesagt, als der Vater heute Vormittag da war, aber sie hat nicht gemerkt, dass die Tür offen war, schon vor dem Termin. Nur einen Spalt für fünf Minuten. Er konnte sie hören im Wartezimmer, wie sie mit einer Kollegin sprach über eine Verabredung mit einem jungen Architekten. Der war nicht gekommen. Hatte sich am Vortag umgebracht.

Und aus der Tür hat sich ein Therapiehund gezwängt. Ist direkt auf ihn zugetapst. Hat seinen wuscheligen Kopf auf das kaputte Knie gelegt. Und hat, fast als würde er zu ihm sprechen, leise gebellt:

„Ich weiß, dass es manchmal schwierig ist, mein Großer.“

Dann ist er weitergelaufen. Zu den Nächsten. Der Vater wurde aufgerufen.

Alles ist okay.

Jetzt plant sein Sohn hier unterm Dach die REVOLUTION zwischen Filmpostern, Plüschtieren und Cowboyfiguren. Ein bisschen Ritter und Burgen spielen.

Das wird schwierig, wenn man nicht aufräumt und die Gitarre in der Ecke, auf der er früher Stones gespielt hat, ist verstimmt und verstummt. Die Glühbirne der Stehlampe müsste mal gewechselt werden und der Schirm hat Löcher, aber nicht heute Abend, nein, nicht heute.

Sein Junge, sein Großer wollte doch werden wie der Papa, oder? Auch mal zum Betriebsarzt und dann abends nach Hause und zerschlagen sein und einen guten Grund dafür haben und trotzdem wachbleiben wie der Vater, tapfer.

Dem ist jetzt alles recht bei seinem Sohn, kann auch Architekt sein, nur nicht tot und es wäre schön, wenn er am Sonntag zum Essen vorbeikommt.

Wie war die Schule?

Nein, blöde Frage.

Habt ihr am Wochenende wieder Punktspiel?

Nein, das sollte er wissen.

Wie fragt man denn, wie es dir geht?

Draußen ist es schon dunkel, aber bald nicht mehr. Die Tage werden länger.

Wenn er da im Sessel sitzt, mit seiner Kuscheldecke vorm müden Vater, der lächelt, sieht er noch aus wie ein Kind.

Eingeschlafen.




VATER 2

And just maybe I’m to blame for all I’ve heard

But I’m not sure

singst du von den Millionen verkauften Platten. Die Teenies tanzen wild. Machen deine Schreie nach. Hören sie nicht. Generationen gehen. Nirvana nicht. Die Jungs halten sich zwei Finger an den Kopf und du hattest eine Tochter, weißt du noch?

Peng, Peng, Peng!

Kein Widerstand.

Hast aufgeben. Du brauchtest ja nur einen Schuss.

Grüß den Tod von mir, wenn du ihn siehst. Und deine Mutter, denk an deine Mutter und deine Tochter und deine Love, die ich nie werden konnte. Du hast jetzt ja Zeit. Dann denk auch mal an mich, dein Wannabe Highschool Sweetheart. Hast an meiner Tür geklopft. Fette Schlampe hast du mich doch selbst genannt in der Schule. Aus der hatten sie mich rausgeprügelt und du wolltest nicht helfen, konntest nur keine andere bekommen.

Besoffen und bekifft hab‘ ich dich gefunden auf den Gleisen. Handgelenke mit Draht an den Schienen befestigt. Wenn ich dich da nicht weggezerrt hätte, was wäre der Welt entgangen. Da waren wir siebzehn.

Und deine Mutter: Scheiße, deine Mutter hast du nicht an deine Mutter gedacht. Soll sie jetzt allein ihre Beatlesplatten hören aus der Zeit, als sie noch frei und du noch lieb warst. Dein Abschiedsbrief endet mit:

„Frieden, Liebe, Empathie“

Und dann einfach dein verdammter Name. Einfach so.

Grüß die Waffe von mir, wenn du ihren Lauf küsst. Hast mich verraten damals und später deine Tochter und ihre Mutter. Das Kind war doch bestimmt auch nicht von dir. Das muss sie jetzt allein machen. Deine Kleine, bringt die sich auch um? Väter sind doch immer tolle Vorbilder. Dein Versprechen, du warst REVOLUTION. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich deinen nackten Körper in der Krematoriumskammer. Aus der Wunde an deinem Kopf läuft kein Blut mehr.  Bist schon übersät von Totenflecken, weil der Elektriker dich erst fand nach drei Tagen.

Meintest noch, dass deine Tochter besser dran ist ohne dich. Tut dir nicht mal leid, oder? Du wirst sie verfolgen, dein Name, dein Scheitern, deine Songs, deine Stimme.

Glaubst du wirklich, die ist stolz auf ihren Papa? Oder dankbar?

Ist dir bewusst. Ich war deine Erste, du mein Einziger. Ich trag dich jetzt mit mir rum. Kann das nicht ändern. Bin mit dir da eingesperrt im Raum über der Garage, wo ich nie war, aber bin, und mich findet keiner. Das stille Mädchen, ausgelacht in der Schule.

Vierzehn Jahre nach deinem Tod wurdest du geklaut. Die Asche aus dem Kleiderschrank der Witwe. Die haben dich alle verarbeitet, kompostiert, Verlust verwandelt in Vergessen. Dein Kind ist dir entkommen. Hat neulich wieder geheiratet. Nur ich komm hier nicht raus. Ich weiß, es tut dir leid. Besonders für deine Mutter, deine Liebe und eure Tochter. Wir waren siebzehn. Weißt du noch?

Du bist mein Star. Immer.

Lieber ausbrennen als verblassen. Deine Reste in meinen Armen.

Eingeäschert.




VATER 3

War, children

It’s just a shot away

singt der betrunkene Penner in der S-Bahn. Papa steigt aus. Jetzt muss es schnell gehen. Die Treppen runter, fast gestolpert. Draußen ist die Luft kalt und die Nacht klar. Letzte Woche wurde er hier überfallen. Gleich am Ausgang. Drei Schläge ins Gesicht.

Zack, Zack, Zack!

Kein Widerstand.

Die Brieftasche und alles haben sie mitgenommen. Sogar die Schuhe. Genau hier am Ausgang. Das war auch sieben Stunden später, wegen der Nachtschicht, aber man muss immer aufpassen. Es wird sehr schnell sehr dunkel Mitte November. Der kälteste Herbst seit Jahren stand in der Zeitung. Besonders am Dienstag fällt ihm das auf wie sich alles verändert. Wetter, Welt und die Kinder.

Er hat Hunger. Im Späti gibt’s noch Kekse, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Es sind bestimmt noch Reste da.

Papa fängt an zu rennen auf der Straße. Gehwegschäden. Vor ihm fährt ein Mädchen auf dem Fahrrad. Bei dieser Kälte.

Er nimmt einen Umweg. Kita, Schule, Wehrdienst, Beruf, Tod: Aber Kinder.

Gleich ist er da. Sieht das Haus. Erleichterung. Im elften Stock brennt noch Licht. Noch schneller rennen, weil es sich jetzt lohnt. Eisige Luft in der entzündeten Lunge. Egal. Alles für die Kinder. Die Finger brennen. Papa fällt fast der Schlüssel runter. Im Wohnzimmer sitzt die alte, ach-wie-liebe Nachbarin. Sie schimpft:

„Du bist wieder sehr spät. Die Kleinen liegen im Bett, aber vielleicht noch wach.“

Bedanken und langsam ins dunkle Zimmer schleichen. Auf dem Hochbett kichert jemand. Da liegen sie. Großer Bruder, kleine Schwester.

Erzähl uns eine Geschichte. Papa erzählt. Es waren einmal Piraten, die suchten einen Schatz. Ihr Boot hatte Löcher, und nur ein Segel. Da wurden sie überfallen von Soldaten der REVOLUTION mit einem großen Schiff und ausgesetzt auf einer einsamen Insel. Sie buddelten sich ihre eigenen Gräber und fanden dabei-

Na, wollt ihr raten?

Den Schatz.

Genau, Großer.

Was bringt ihnen das jetzt, Papa? Sie kommen doch trotzdem nicht weg.

Papa will was sagen, die Tochter übernimmt.

Ist doch egal, ey. Wenn sie einen Schatz haben, ist alles gut. Stimmt doch, Papa?

Ja, stimmt.

Kommst du morgen früher? Wir wollen mit dir Kostüme basteln.

Als was geht ihr denn?

Piraten.

Papa flüstert beiden noch ins Ohr: Gute Nacht, Schatz.

Er schaut aus dem elften Stock auf die stille Stadt.

Eingefroren.




VATER 4

Where the children of tomorrow dream away (dream away)

In the wind of change (the wind of change)

rufen alle am Grenzübergang. Du bist ja schon anderthalb Jahre früher rüber. Mein Vater hat gegen die Nazis gekämpft. Verreckt in Gestapo-Haft. Ich bin ihm gefolgt für die Freiheit in den Tod und mein eigener Sohn tritt sein Erbe jetzt mit Westlackschuhen.

Hey, Hey, Hey?

Kein Widerstand.

Singt alle diese Amihymnen und lasst euch vom Konsum das Hirn rausfressen.

Ich habe euch gerettet. Ihr saßt da so im Wohnzimmer, deine Schwester noch ganz klein. Da habe ich den Entschluss gefasst. Ausreise nach Osten, bevor es zu spät ist. Noch am selben Abend die Koffer packen und dann ab nach Moskau und von da nach Berlin. Die Partei hat mich als Held empfangen.

Verstehst du? Ich war der Wolf, du bist ein Schaf. Teil der blinden Herde. Wo bleibt die Ehre? Bist auch ausgereist, wieder zurück in das Land, aus dem ich dich befreit habe.

Ich war der Stolz einer Nation. Kronzeuge der Aktion Verwüstung. Spion für Hammer und Sichel. Habt alles verschluckt, was wir aufgebaut haben.

Und du lässt uns im Stich. Neue Perspektiven für ein Volk. Alles Vorwände. Keine Wende, eine Zerstörung.

Dich werden sie auch fallenlassen, wenn du rübergehst.

Den Heimatlosen helfen willst du?

Grenzen sollen nicht bloß Striche sein. Das geht nicht, mein Sohn, glaub mir. Sonst kommen die Leute und machen einen Schritt drüber. Wenn sie dann nicht von Kugeln zerfetzt werden, laufen sie einfach weiter. Das ist dringend zu vermeiden.

Deine verdammte Mutter, von der hast du diese Schwäche. Deshalb haust du einfach ab. Solltest dich den Verhältnissen stellen wie ein Mann. Hab ihr im Westen nie erzählt, wer ich wirklich war zu ihrem eigenen Wohl.

Jetzt setzt du dich vor den Spiegel und heulst:

„Mein Vater war ein gebrochener Mann, ein Trinker.“

Hörst du, die wollten mir eine Autobiographie schreiben. Deine Mutter konnte damit nicht umgehen. Deshalb ist sie gegangen. Kein Mut.

Ich war nicht invalide. Ich glaubte an REVOLUTION. Ich wurde nicht verlassen. Ich habe Alarm geschlagen, den mein eigener Sohn nicht hört, aber jetzt bekommt ihr’s zu spüren.

Dezember ’80 war Schluss mit mir.

November ’89 war Schluss mit uns.

Jetzt ist bald Schluss mit euch, wenn sich der Osten rächt.

Ich wäre gern stolz auf dich gewesen, gern dein Vater.

Dein Vater. Hätte dir gerne beim Großwerden zugesehen.

Weißt du noch, wie du das letzte Mal die Mauer gesehen hast, vor der Ausreise von unserer Seite?

Alles kann sich verwandeln, egal wo. Eines bleibt, egal wo. Wir sind alle, egal wo.

Eingeschlossen.




Jona Till wurde 2006 in Berlin geboren. Er war Dramaturgieassistent am Deutschen Theater Berlin und ist u.a. beim OffSpring Award der lit.Cologne, dem Treffen junger Autor:innen und den Landschreiber-Wettbewerben ausgezeichnet worden. Aktuell studiert er Philosophie und Germanistik in Berlin.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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