Die Märchenstunde

Claudia Dvoracek-Iby für #kkl58  „Ethik“




Die Märchenstunde

Es ist Freitagmorgen. Wie jeden Wochentag betrete ich kurz vor Unterrichtsbeginn meinen Klassenraum, und gehe so unauffällig wie möglich, meinen Kopf gesenkt, den Blick zu Boden gerichtet, schnell zu meinem Sitzplatz. Ich blicke keines der bereits anwesenden Kinder an, die miteinander reden und lachen, und ich grüße auch niemanden. Still setze ich mich auf meinen Platz in der vorletzten Reihe und räume meine Mappe und meine Federschachtel aus der Schultasche. Dann ziehe ich meinen Zeichenblock hervor, nehme einen Bleistift und beginne zu zeichnen. Ich zeichne jeden Morgen und in jeder Pause, meistens Einhörner, weil ich gerne zeichne und weil ich Einhörner liebe. Vor allem aber zeichne ich, damit alle sehen, dass ich beschäftigt bin und mich in Ruhe lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich nun, dass Jasina, meine Sitznachbarin, ins Klassenzimmer kommt. Sie setzt sich neben mich, und während sie ihre Schulsachen auf unseren gemeinsamen Tisch legt, sagt sie wie jeden Morgen freundlich „Hallo, Merle“ zu mir. Ich antworte nie, auch heute nicht.

Ja, obwohl Jasina und auch die anderen Kinder nett zu mir sind, spreche ich nur das Allernötigste mit ihnen. Der Grund für meine Verschlossenheit ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Denn die Kinder in meiner früheren Schulklasse, die ich ein halbes Jahr besucht habe, bevor ich dann in diese jetzige Klasse wechselte, waren am Anfang auch alle nett zu mir. Doch dann hat ausgerechnet Anna, meine damalige beste Freundin und Sitznachbarin, begonnen, sich mir gegenüber sehr gemein zu verhalten. Und andere Mädchen haben mitgemacht. Sie haben mich geärgert, wegen allem Möglichen, wegen der Art, wie ich rede und lache, wegen meiner kurzen Haare, meiner Kleidung und vielem mehr. Einmal war ich so traurig deswegen, dass ich mich meiner damaligen Lehrerin, Frau Figaro, anvertraut habe. Doch sie hat mir nicht geglaubt. Anna war nämlich von Beginn an ihre Lieblingsschülerin, der sie keine Gemeinheit zutraute.  Und dann wurden Annas Schikanen immer schlimmer, so schlimm, dass ich nicht mehr zur Schule gehen wollte. Meine Mutter hat mit Frau Figaro darüber gesprochen, und auch ein ernstes Wort mit Anna, aber daraufhin ist alles noch ärger geworden. Ich habe mich dann geweigert, zur Schule zur gehen. Schließlich hat Mama mich dort abgemeldet. Und seit knapp vier Wochen gehe ich nun in diese Schule.

 „Schönen guten Morgen, Kinder!“ Unsere Lehrerin, Frau Himmelblau, betritt gut gelaunt die Klasse. Frau Himmelblau ist jung und hübsch und fröhlich. Und sie hat tatsächlich himmelblaue Augen mit vielen Lachfältchen drumherum.  Alle Kinder lieben Frau Himmelblau. Aber ich bin skeptisch, war doch Frau Figaro in meiner alten Schule ebenfalls sehr nett zu allen, auch zu mir. Sie hat aber manche der Kinder, Anna zum Beispiel, bevorzugt. Und mich hat sie im Stich lassen.

Die erste Stunde haben wir Biologie, dann Deutsch und Mathe. Die Zeit vergeht schnell, schon beginnt meine Lieblingsstunde Zeichnen. Und diese ist auch schon die letzte Unterrichtsstunde, danach werde ich nach Hause gehen. Freitags muss ich nie aufpassen, dass ich nicht zufällig gemeinsam mit Jasina oder einem anderen Kind aus der Schule gehe und mich dann womöglich auf dem Nachhauseweg unterhalten muss, denn an diesem Tag bleiben alle anderen Kinder noch eine Stunde in der Klasse. Sie besuchen nämlich einen Freigegenstand.

 ‚Die Märchenstunde‘ heißt sie, diese Freistunde, in der Frau Himmelblau Märchen, Geschichten und Gedichte vorliest. Alle freuen sich immer auf diese Stunde. Ja, sie schwärmen richtig davon in den Pausen, erzählen sich gegenseitig, wie schön doch diese Stunde ist und wie großartig Frau Himmelblau vorlesen kann. Manche der Kinder hören einfach zu, andere basteln, knüpfen Freundschaftsbänder oder malen Mandalas, während sie den Geschichten lauschen. Es klingt nach einer sehr angenehmen Stunde, und eigentlich würde ich ebenfalls gerne einmal bleiben, weil ich Märchen so gerne mag wie zeichnen, aber irgendwie habe ich mich bisher nicht überwinden können.

„Bitte nehmt eure Wasserfarben heraus,“, sagt Frau Himmelblau nun, „und holt euch hintereinander Wasser zum Mischen der Farben. Ich habe mir gedacht, dass heute jeder sein Lieblingstier malt. Ihr könnt euer Haustier malen oder ein Fabeltier, ein Tier aus dem Dschungel, oder eines, das im Meer lebt. Also einfach ein Tier, zu dem ihr eine besondere Verbindung habt.“

Für mich ist sofort sonnenklar, dass ich ein Einhorn malen werde. Ich male eines meiner Einhörner, die ich immer wieder mit Bleistift zeichne, male es sorgfältig mit Deckweiß, male ihm ein goldenes Horn und goldene Hufe, male mein Einhorn in einem dunklen Wald stehend. Das macht mir großen Spaß. Fast vergesse ich, dass ich in der Schule bin, und dass ich vorsichtig sein muss, vor allem bei Jasina, der Nettesten von allen, die mich oft, und gerade jetzt wieder, anlächelt, obwohl ich ihr Lächeln nie erwidere.

Plötzlich steht Frau Himmelblau neben mir und betrachtet mein Bild.

„Sehr schön, Merle“, sagt sie. „Das hast du wunderbar gemalt. Wie gut sich das Einhorn vor dem dunklen Hintergrund abhebt, und wie schön du die Mähne und das goldene Horn gemalt hast – wirklich sehr gelungen, dein Bild.“

Ich bemühe mich, mich nicht über das Lob zu freuen, aber es gelingt mir nicht. Ich spüre, dass mein Gesicht rot wird vor Freude.

„Oh, Jasina“, sagt Frau Himmelblau nun, als sie auf das Zeichenblatt meiner Sitznachbarin sieht, und ihre Stimme klingt wirklich überrascht. „Das ist ja großartig! Du hast das Pferd so detailgetreu gemalt, es wirkt richtig lebendig. Du bist ein echtes Talent!“

„Das ist Amir“, sagt Jasina leise. „Meine Großeltern hatten drei Pferde. In Syrien. Ich war oft bei ihnen, als ich klein war, und wir noch in Syrien lebten.  Amir war mein Lieblingspferd.“

Ich blicke auf Jasinas Bild, sehe ein weißes Pferd, meinem Einhorn ähnlich, halt ohne Horn. Das Pferd ist tatsächlich wunderschön gemalt. Besser als mein Einhorn. Es bäumt sich auf, und man kann erkennen, dass es vor Energie und Lebensfreude nur so strotzt. Zuerst spüre ich Bewunderung für Jasinas Bild, dann so etwas wie Eifersucht, und plötzlich steigt pure Wut in mir auf. Frau Himmelblau ist bestimmt so ungerecht wie Frau Figaro, denke ich, sie bevorzugt Jasina, und mich mag sie nicht so gern.

Und dann, als Frau Himmelblau uns den Rücken zuwendet und die Werke anderer Kinder betrachtet, nehme ich mein Wasserglas und leere es über das Pferdebild von Jasina.

Jasina ist zuerst starr vor Schock, dann schaut sie mich an, schüttelt den Kopf, nimmt ihr Wasserglas und leert es über mein schönes Einhorn.

„Nein“, schreie ich leise auf.

Jasina weint.

Ich schlucke, und versuche angestrengt, meine Tränen zurückzuhalten.

„Merle hat angefangen“, ruft Nora, die hinter uns sitzt, Frau Himmelblau zu. „Ich habe es gesehen. Sie hat absichtlich Wasser über Jasinas Bild geleert.“

Ich verstecke mein Gesicht hinter meinen Händen, damit niemand sieht, wie mir nun Tränen über die Wangen rinnen. Jetzt wird Frau Himmelblau mit mir schimpfen, denke ich, und fühle mich innerlich aufgewühlt und zugleich vollkommen leer.

„Also, Mädchen“, höre ich Frau Himmelblau ganz ruhig sagen. „Eure beiden wunderschönen Zeichnungen sind leider nicht mehr zu retten, aber das Gute ist, dass ihr ja die Möglichkeit habt, jetzt gleich in der Märchenstunde neue Zeichnungen anzufertigen. Jasina, du bleibst ja ohnehin immer zur Freistunde. Und dir, Merle, wird die Märchenstunde bestimmt gefallen, da bin ich überzeugt davon. Ich werde deine Mutter darüber informieren, dass du heute später nach Hause kommst. Einverstanden, Merle?“

Ich nicke leicht, versuche, mich zu beruhigen, wische mir heimlich die Tränen ab.

Frau Himmelblau hilft uns in der Pause wortlos, unsere Plätze zu trocknen und zu reinigen, sie streichelt Jasina, die nun nicht mehr weint, aber sehr traurig aussieht, tröstend über das dunkle Haar. Und sie streicht auch mir aufmunternd über meine Schultern.

„Nach der Märchenstunde bleibt ihr beide bitte noch ein paar Minuten da. Wir drei werden dann klären, was passiert ist. Ich bin mir sicher, ihr werdet heute noch beide sehr zufrieden ins Wochenende gehen“, sagt sie zuversichtlich.

Es fällt mir schwer, Frau Himmelblau nicht nett zu finden. Und es fällt mir noch schwerer, Jasina nicht zu sagen, wie leid es mir tut, dass ich ihr schönes Bild ruiniert habe. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich erklären soll, was in mir vorgegangen ist, dass sich die schlimmen Erinnerungen an früher in die Gegenwart gedrängt haben. Ich wollte diesmal vorher gemein sein, bevor es jemand anderer zu mir sein würde. Aber vielleicht wäre dies ja gar nicht der Fall gewesen. In meinem Kopf schwirrt es. Bestimmt werde ich mich überhaupt nicht auf die Geschichten konzentrieren können, sondern immer daran denken müssen, was ich getan habe.

„So, Kinder“, sagt Frau Himmelblau. Sie sitzt vorne an ihrem Pult, ein dickes Buch liegt aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. „Macht es euch bitte gemütlich. Als erstes lese ich ein Märchen vor, das sich Jasina gewünscht hat. Es ist ein Märchen aus ihrer Heimat. Ein sehr bekanntes syrisches Märchen. Es heißt „Der Wunderkasten“ und ist von Rafik Schami. Deine Oma hat es dir oft vorgelesen, als du klein warst. Richtig, Jasina?“

„Ja“, sagt Jasina leise. „Als meine Eltern und ich noch in Syrien gelebt haben.“

Ich blicke sie verstohlen an. Sie wirkt so traurig. Wahrscheinlich hat sie ihre Oma lange nicht gesehen. Und auch ihr Lieblingspferd nicht, Amir. Ich schäme mich so sehr, dass ich das Bild von ihm zerstört habe.

Während ich ein neues Einhorn auf meinem Blatt Papier entstehen lasse, und neben mir Jasina konzentriert erneut ihr Pferd Amir malt, lausche ich der Stimme von Frau Himmelblau.  Sie liest die Geschichte des Hirtenjungen Sami, der um das Mädchen Leila kämpft, das er liebt. Das Märchen zieht mich vollkommen in seinen Bann. Ich kann Sami und Leila richtig vor mir sehen, vor meinem inneren Auge.

Nach dem Märchen liest Frau Himmelblau eine Geschichte über einen Fisch mit goldenen Schuppen, die er an alle verschenkt, die diese brauchen können.  Und es scheint mir fast, als ob der gutherzige Fisch aus dem Buch, das vor Frau Himmelblau liegt, hinaus und zu mir fliegen würde. Direkt in mein Herz.

Plötzlich höre ich Frau Himmelblau sagen: „Die nächste Geschichte widme ich einem Mädchen, das noch nicht lange bei uns ist, und das uns noch nicht viel von sich erzählt hat, von dem wir noch nicht viel wissen. Aber in einem bin ich mir sicher, nämlich, dass sie Einhörner liebt.“

Ich spüre wieder, dass ich rot werde. Und dann liest Frau Himmelblau eine wunderschöne Geschichte von der Freundschaft zwischen einem kleinen Mädchen und einem Einhorn. Das Einhorn hilft dem Mädchen, wenn es in Not ist und tröstet es, wenn es traurig ist. Ich muss weinen, weil mich die Geschichte so sehr berührt.  Jasina drückt mir ein Taschentuch in die Hand. Da muss ich noch mehr weinen, weil sie nach wie vor nett zu mir ist, obwohl doch ich gemein zu ihr gewesen bin.

Viel zu schnell ist die Märchenstunde vorüber. Wie verzaubert sitze ich da, und merke, dass ich mich schon jetzt auf die nächste Märchenstunde freue – ja, keine einzige möchte ich mehr versäumen. Und während die Kinder lärmend ihre Schulsachen einpacken und sich von Frau Himmelblau ins Wochenende verabschieden, und nur Jasina und ich, wie mit unserer Lehrerin vereinbart, sitzen bleiben, nehme ich ein Blatt Papier, und schreibe mit rotem Filzstift darauf:

„Liebe Jasina. Es tut mir sehr leid. Amir ist wunderschön. Deine Merle.“

Dann male ich ein rotes Herz in die rechte Ecke, falte das Papier zusammen und lege es auf ihren Platz. Jasina nimmt den Zettel, liest meine Nachricht, dann schreibt sie etwas auf die Rückseite und reicht mir den Zettel.

„Liebe Merle. Ist schon vergessen. Dein Einhorn ist wunderschön. Deine Jasina.“

Und auch sie hat ein rotes Herz in die rechte Ecke gemalt.

Wir lächeln einander an, Jasina und ich. In mir ist es ganz weit vor Freude. Ich spüre nämlich, dass Jasina es ehrlich mit mir meint.

Jetzt erst merke ich, dass es still geworden ist in der Klasse. Alle anderen Kinder sind bereits gegangen. Frau Himmelblau sieht Jasina und mich an. Dann lächelt auch sie und sagt:

„Ich habe den Eindruck, dass ihr bereits alles geklärt habt. Das habt ihr sehr gut gemacht. Ich möchte dir nochmal sagen, Merle, dass du mit mir immer über alles reden kannst. So wie auch du, Jasina. Ich denke, für heute aber ist alles gut, so wie es ist. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende, meine Lieben.“

„Schönes Wochenende, Frau Himmelblau!“, sagt Jasina.

„Schönes Wochenende, Frau Himmelblau“, sage auch ich, und lächle meine Lehrerin dankbar an. Frau Himmelblau ist einfach großartig, und ich bin mir nun absolut sicher, dass ich ihr vertrauen kann.

Und dann verlassen Jasina und ich zusammen das Schulgebäude, und gehen gemeinsam den ganzen Schulweg bis nach Hause. Wir reden über alles, was uns wichtig ist und wir lachen sehr viel miteinander, meine Freundin Jasina und ich.




Claudia Dvoracek-Iby, geb. 1968 in Eisenstadt, lebe in Wien. Schreibe Geschichten, Gedichte und Märchen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Seit 2012 zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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