Bettina Kenter-Götte für #kkl58 „Ethik“
Alles ganz normal
Das Röhren-Wettkriechrennen war mir nicht ganz geheuer, denn ich, drei Jahre alt, hatte zunächst „Weltkriegrennen“ verstanden. Aber als Preis winkte ein märchenhaft schönes pastellfarbenes Kinderwindrädchen. Ich war die Kleinste und wurde in der Mitte platziert, das sollte mir einen Vorsprung sichern. Doch auf „Los!“ wurde ich so brutal überrannt, dass ich es für klug hielt, die anderen vorzulassen. Dann krabbelte ich zügig hinterher. Stolz kam ich als Letzte aus dem Rohr. Die Umstehenden lachten; das Trostpreis-Bonbon wies ich empört zurück. Nun wusste ich, nach welchen Regeln Preise vergeben werden.
Lektion zwei folgte bald darauf in einem Kindergarten, der, wie damals üblich, kirchlich geführt wurde. (Dank meiner atheistischen Mutter blieb ich nicht lange.) Schon an einem der ersten Tage dort wurde ich Zeugin, wie Schwester Friedburga einem etwas größeren Mädchen eine schallende Ohrfeige verpasste. Das war erlaubt und üblich, doch neu für mich. Daheim schmiedete ich Rachepläne, und am nächsten Morgen verweigerte ich der Schwester Handschlag und Knicks; zur Strafe. Überraschenderweise zeigte sie keinerlei Schlechtgewissen, sondern verbannte mich, da ich stur und standhaft blieb, auf die Strafbank am hinteren Ende des Raumes und stimmte dann mit den braven Kindern ein frohes Liedchen an. Auf Stuhlkreis und Tralala konnte ich gut verzichten, aber mit der Zeit wurde mir langweilig. In einer Spielzeugkiste hinter meiner Exilbank lag eine Puppe, die zog ich raus und an mein Herz. Schon war Friedburga zur Stelle und riss sie mir weg. Die wortlose Botschaft war klar: Kein artiger Gruß, keine Puppe; wer nicht spurt, bleibt außen vor. Und da … die Puppe war so schön … da knickte ich ein und knickste und grüßte und schämte mich und hatte wieder was gelernt.
Kommunionunterricht. „Der Kinderfreund im Sakrament“: Jeden Mittwoch freute ich mich auf ein neues Heftchen der Reihe. Die Heiligengeschichten beeindruckten mich besonders; ich wollte Heilige werden. In der Weihnachtszeit sah ich einen Engel und beschrieb ihn so genau, dass selbst meine Mutter vollumfänglich beeindruckt war und keinerlei Zweifel äußerte. Dann erzählte meine Grundschullehrerin, Heilige könnten Engel sehen. Freudestrahlend stand ich auf und erzählte, dass ich auch schon mal einen Engel gesehen hatte, und das Fräulein lachte nur kurz auf und die ganze Klasse kicherte mit.
In der dritten Klasse bekamen wir einen Lehrer. Eines Tages musste er kurz das Zimmer verlassen und bestimmte mich zur „Aufpasserin“, die an die Tafel schreiben sollte, wer während seiner Abwesenheit schwätzte. Ich erhob mich. „Ich möchte niemanden verpetzen.“ Nach einem Totenstillmoment sagte Herr B.: „Du verstehst den Unterschied nicht zwischen Petzen und dem-Lehrer-helfen. Setz dich.“ Eine andere half aus. Dass der nette Herr B. nach dem Krieg als „belastet“ vom Gymnasial- zum Grundschullehrer degradiert worden war, das erfuhr ich erst Jahre später.
Heilige wurde ich nicht, sondern Schauspielerin. „Denk nicht, spiel!“ fuhr mich ein Regisseur an. Aber so ein Anpfiff war ja nichts Besonderes; das Denken schon eher: „Frag‘ nicht, spiel!“ polterte ein anderer.
Bei meiner ersten Fernsehrolle – ich war 19 – sollte ich laut Drehbuch barbusig auftreten. Solche Freizügigkeit war gang und gäbe; doch da die Nacktheit dramaturgisch unbegründet war, ließ ich mir Vollbekleidung vertraglich zusichern. Mein Agent war nachhaltig ungehalten, mein Kostüm nicht nur geschlossen, sondern auch sehr unvorteilhaft. Doch dass ich bei vom Sender nach diesem Vertrag sieben Jahre lang kein einziges Angebot bekam, das ist mir erst Jahrzehnte später aufgefallen, denn ich hatte ja auch so immer gut zu tun.
Schwierig wurde es erst, als meine Überraschungstochter zur Welt kam. Damals, Anfang der 1980er Jahre, war das Leben als Singlemama noch längst nicht die Norm, war eher am Rande der Schande; zehn Jahre zuvor hätte ich als „Fräulein Mutter“ noch nicht einmal das Sorgerecht für mein Kind innegehabt.
Nun verträgt sich das Singlemamadasein naturgemäß recht schlecht mit dem Schauspielberuf, aber irgendwie musste es ja weitergehen, also bewarb ich mich fleißig (und zunächst auch zuversichtlich) um ein festes Engagement. (Ach, eine Kinderbetreuung würde sich gegebenenfalls schon finden!)
Einer der Herren Intendanten (lauter „Herren“, was sonst) zeigte sich amüsiert, als ich ihm meine Gagenvorstellung mitteilte: „Hoho, haha, na, Sie sind gut! Das zahlen wir nur Familienvätern!“ Obwohl ich ja noch mehr, nämlich Mutter und Familienvater war, wurde ich nicht engagiert. Aber das wäre ja ohnehin schwierig geworden, mit Kind und den Arbeitszeiten am Theater, und für eine Betreuung hätte die Gage ja eh nicht gereicht.
Da waren Drehtage doch vielleicht familienfreundlicher. Ich telefonierte Besetzungsbüros, Casting-Agenturen und Fernsehfirmen ab. Einmal hatte ich einen Filmregisseur an der Strippe. „Wie alt sind Sie?“ fragte er. „31? Naja, das geht ja noch. Mit 35 kommen dann die harten Züge, und ab 40 kann man eh keine Frau mehr im Fernsehen zeigen.“ Aber noch ging es, mit 31!
An meinem ersten Drehtag als Jungmutter – ich stillte noch – wartete die Tante, die extra angereist war, mit dem Baby in der Gemeinschaftsgarderobe. Das war nicht üblich, aber Baby war brav. Beschwert hat sich trotzdem jemand. Eine Kollegin. Eine junge Kollegin, deren Hund … aber gut, Hunde in der Garderobe, das war ja ganz etwas anderes; das war ja ganz normal.
Die nächste Fernsehrolle – ich stillte noch immer – nahm ich an, weil ich nur eine einzige kurze Szene spielen sollte und man mir versichert hatte: „Nach spätestens vier Stunden sind Sie abgedreht!“ Diesmal ließ ich den Säugling betreut daheim; aus Erfahrung wird man klug; allerdings nicht klug genug. Der Drehschluss verzögerte sich. Nach neun Stunden kam mir die Babysitterin mit brüllendem Kind per Taxi entgegen … und mir platzte fast der Busen. (Um etwaigen Belehrungen vorzubeugen: Das Abpumpen hat nie funktioniert, meine Brust hat nur das Kind gelten lassen und sich hartnäckig der kleinen Melkmaschine verweigert.)
Ich nahm nur noch Kleinst-Aufträge an. Ein Promi-Kollege flüsterte mir zu, für Hosen sei mein Hintern zu dick, und ein anderer sagte laut: „So schlanke Frauen wie Sie sehen nur in Kleidern gut aus!“. Aber solche Bemerkungen waren wir ja gewohnt.
Kitas gab es noch nicht, Krippen nur wenige. Und was hätten sie auch genützt in einem Beruf, in dem man rund um die Uhr arbeitet und ständig unterwegs ist?
Und wer springt in den Ferien und bei Kinderkrankheiten ein? Singlemamas ohne familiäre Unterstützung wie mir blieb zu jener Zeit nur die Sozialhilfe; das war ganz normal. Und obwohl dem Töchterchen der Kindergarten erst ab drei Jahren offenstand, selbst mit Dringlichkeitsstufe, wollte Vater Staat mich flugs zu gemeinnütziger Arbeit heranziehen.
Um dem behördlichen Druck zu entgehen, nahm ich das erstbeste Angebot an. Ich sollte für eine erkrankte Kollegin einspringen und kurzfristig ihre Rolle in einer auswärtigen Vorstellung übernehmen. Zum Glück war meine Tante zu Besuch, aber stundenlang mit der Kleinen allein bleiben, das traute sie sich nicht zu. Freundlicherweise nahm der Kassenwart des Theaters uns alle drei in seinem Auto mit. Leider bekam die Kleine auf der langen kurvigen Fahrt zum Theater schlimmes Bauchweh …
… und so ließ ich das mit dem Theater wieder sein und übte mich im Schreiben von Sozialamts-Widersprüchen, und auch sonst im Schreiben, denn womöglich ließ sich ja auch damit eines Tages Geld verdienen.
Tatsächlich erschrieb ich mir eine Auszeichnung. Und während mir bei der Preisverleihung in einem ehrwürdigen Schweizer Rathaus Champagner, Handküsse, Lachsröllchen und Lob zuteilwurden, trug ich ein bundesdeutsches Behördenschreiben in der Tasche, in dem mir Leistungsentzug wegen fehlender Mitwirkung angedroht wurde. Und das, ja, das fand ich dann doch sonderbar, dass man zur gleichen Zeit geehrt werden kann und verachtet und existenziell bedroht. Aber meine Tante sagte: „Nicht ärgern, nur wundern!“, und daran hielt ich mich.
Ein Kleintheater in der Heimatstadt lockte mit mütterfreundlichen Probenzeiten. Das war nicht selbstverständlich und eine Chance. Am Tag der Premiere wurde meine Zweijährige krank; auch die Babysitterin war krank. Und so schleppte ich das Fieberkindchen auf dem Rücken zur S-Bahn und dann zum Theater und bettete es, nur drei Meter von der Bühne entfernt, in der Garderobe auf einen Kostümhaufen und hoffte, das Fieber möge hoch und das Kind deshalb ruhig bleiben, und dann wurde es eine ganz normale Premiere.
Ein Theaterangebot. Dreißig Vorstellungen am Stück. Mein Bühnenpartner erhielt 300 Mark pro Abend. Ich bekam 100. Das waren die normalen Gagen; von meiner ging noch die Abendbetreuung fürs Kind ab; aber ich musste ja froh sein, dass ich zu tun hatte. Nur krank werden darf man als vogelfreie Freie nicht, denn fällt die Vorstellung aus, gibt’s kein Geld. Und so blieb mir, während wir die Windpocken hatten, nichts anderes übrig, als Schulden zu machen. Aber mit Keuchhusten stand ich im Studio, denn die nächste Miete war fällig und Husten kann man wegatmen. Ich hoffe, ich habe niemanden angesteckt. Mit Schulbeginn meiner Tochter gab ich das Theaterspielen auf. Aber das war ja auch gut so. Mit Ende dreißig wurden die Frauenrollen sowieso rar; das war nun mal so; und so ist es noch heute.
Meine Tante – die Nicht-ärgern-nur-wundern-Tante – ist übrigens 100 geworden.
Und dass meine Kleine einst dem Theater-Kassenwart ins Auto gekotzt hat, das ist ihm schon recht geschehen, denn wie ich später hörte, hat er sich oft und ausgiebig an der Theaterkasse bedient …

Bettina Kenter-Götte, * 1951. Als Singlemutter diskriminiert und von Behörden drangsaliert, als Schauspielerin honoriert, als Autorin prämiert, vom Jobcenter sanktioniert; inzwischen rehabilitiert und privilegiert.
Förderpreis Luzerner Literaturförderung 1984, Erika-Mitterer-Lyrikpreis 2009, Stuttgarter Autorenpreis 2011 für „Hartz-Grusical“. Audiotexte für Kinder, Kurzgeschichten, Artikel, u.a. für MANOVA. Bücher: „Auf Rosen gebettet – Geschichten von Armut und Ausgrenzung“ (2009) und „Heart’s Fear – Hartz IV – Geschichten von Armut und Ausgrenzung“ (2018). Zweijährige Lesereise mit über 50 Auftritten, u.a. im Bundestag zu Berlin. 2024 UA von „Nada, Niente, Null“ am theater 77 Innsbruck.
Kenter-Götte hat eine erwachsene Tochter und eine kleine Enkelin und lebt mit ihrem Mann im Großraum München.
Über #kkl HIER
