Eisfrei

Martin A. Völker für #kkl58 „Ethik“




Eisfrei

Das Wetter ist rauh. Lass uns also über einen Garten im schönsten Spätfrühling plaudern, nein, lass uns diesen Garten besuchen. Wir durchschreiten die alte Holzpforte, die mit einem Blumengirlandenbogen für uns geschmückt ist wie das Tor zu einer besseren Welt. Ein angenehm warmer Windhauch hält alles in harmonischer Bewegung, mit Wohlgerüchen umgibt er uns. Wir atmen so tief ein, dass wir ganz plötzlich lachend und hustend ausatmen müssen. Wir stimmen ein ins Summen, Schwirren und Singen um uns herum. Jeder graue Gedanke, der unser Gesicht eindrückte, verschwindet. Wange und Stirn glätten sich, der Körper strafft sich. Es scheint, als ob unsere Füße den Boden nicht berühren, und doch laufen wir. Die Apfelbäume links und rechts des Weges stehen in voller Pracht. Was wäre geschehen, wenn Adam und Eva sich an den Blüten erfreut und die Frucht nicht begehrt hätten? Weiter führt uns der Weg. Auf einer schmalen Teichbrücke bleiben wir stehen. Wasser und Sonnenstrahlen spielen miteinander. Sogar die Trauerweide am anderen Ufer lächelt. Kaum merkliche Schwimmbewegungen der Fische sorgen dafür, dass sie dann und wann im Sonnenlicht aufblitzen. Was gäbe ich darum, jetzt nicht daran zu denken, wie irgendwer die Angel hineinhält und später seinen Fang filetiert! Die Anhöhe voller Blumen lassen wir hinter uns. Die kleine Schafherde vor der Schiefermauer hat nicht auf uns gewartet. Versunken in Traum und Wohlgefallen bewegen sich sanft malmend die Kiefer. Hier und dort schaut ein Grashalm zwischen den Lippen hervor, was den Schafen die Verwegenheit und Lebenslust eines Huckleberry Finn verleiht. Wenn es eine Gottheit gibt, soll sie mich immer das Schaf sehen lassen, wie ich es in diesem Augenblick vor mir sehe, nicht durch die schlierige Scheibe des Backofens das zerstückelte Etwas, das im Bräter in brauner Soße liegt, die mich an einen brodelnden Sumpf erinnert. Eingepfercht ist unser Denken in Kategorien, eine davon ist das Rezept. Das Federvieh legt unser Frühstücksei, der Fisch wird zum leichten Mittagsgericht, das Schaf zum deftigen Abendmahl. Alles, was wir sehen, scheint nur für uns anwesend zu sein, das Selbstsein der Dinge kommt uns wie ein Ding der Unmöglichkeit vor. Zutat und Verbrauch ist alles, was für uns zählt. Der Garten, den wir durchschlendern, teilt uns indessen mit, dass er selbst die Erkenntnis sei und nicht der Baum, der in ihm wächst. Mit jedem Hauch und jedem neuen Bild zeugt der Garten von einem Leben jenseits des Rezepthaften. Du musst mitnichten alles essen, was du siehst. Der Mensch kann mehr sein als eine Vertilgungsmaschine, mehr als ein Miniaturtagebaubagger, der auch in der Nacht Raubbau betreibt. Was nützt uns das Nachdenken über das richtige und gute Handeln, wenn wir schon bei der Verrichtung des Essens täglich daran scheitern? Jedes philosophische System läuft auf eine Ethik hinaus, jedoch verwandelt es sich in ein Betrugsbild, wenn es nicht mit einer Wirkungsanalyse beginnt, die benennt und abschätzt, was wir auf welche Weise und mit welcher Folge aus der Welt und von der Erde nehmen, um unseren Körper und unseren Geist zu erhalten. Deinen Körper kannst du unmöglich erhalten, wenn darüber die Umwelt als dein zweiter Leib zugrunde geht. Dein schneller Geist verkümmert, wenn er sich nicht als Teil der belebten, belebenden Winde versteht. Gibt der Tod deinen Mahlzeiten das Gepräge, wird Vernichtung zum Hauptakt in deinem Leben. Zeige mir das Kind, welches nicht verstört vor dem Thekenfenster steht, hinter dem auf Augenhöhe der tote Fisch auf dem Brucheis liegt. Wenn wir es verlernen, diesen Fisch und die ganze Welt mit Kinderaugen zu sehen, verwandeln wir uns in jenes Eis, das die Frische garantiert, aber den Tod umschließt. Jede echte Ethik bewirkt das Auftauen der vereisten Gedanken, damit das Bächlein, welches in unseren Gartenteich mündet, wieder fließen kann. Denke an den Garten, und handle im Sinne des Gartens. Weitere ethische Grundsätze werden unnötig sein.




Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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