Mark Monetha für #kkl58 „Ethik“
Herr Fisch
Seit einer Woche regnete es. Der Himmel war grau, die Fassaden der Häuser und der Asphalt nassschwarz. Wer nicht musste, ging nicht vor die Tür. Nur das Nötigste wurde getan, zum Beispiel der Gang von der Grundschule nach Hause.
Sophia lugte unter ihrer Kapuze hervor. In der Pfütze neben der alten Platane schimmerte es silbern. Sie ging näher heran. Ein Fisch. Wie konnte das sein? Ein kleiner silberner Fisch. Die Pfütze war groß, aber flach, sodass er nur auf der Seite liegen konnte. Sie kniete sich hin. Er sah sie mit großem Auge an.
Sie lief nach Hause. Ihre Mutter sagte, da könne man nichts machen. Aber der kleine hilflose Fisch ließ Sophia keine Ruhe, und so ging sie am Nachmittag noch einmal hin. Zu ihrer Überraschung standen zwei Personen dort. Versteckt unter ihren Schirmen und hinunterstarrend, als gelte es, ein gemeinsames Rätsel zu lösen. Sie stellte sich zu ihnen.
»Wie kann der hierherkommen?«, fragte die Frau, die Sophias Oma hätte sein können.
»Na, vom Himmel wird er nicht gefallen sein«, erwiderte der ältere Herr.
Dann gingen sie weiter.
Sophia hockte sich hin. Der Fisch atmete noch.
Plötzlich stand ein Mops neben ihr. Sie war so konzentriert gewesen, dass sie erschrak.
»Entschuldige«, sagte die junge Frau. Und neugieriger: »Was hast du denn da?«
»Da ist ein Fisch.«
»Ein Fisch?«, echote die Frau. »Das kann doch nicht sein.« Sie kam näher und musste feststellen, dass es doch sein konnte.
»Wie können wir ihm helfen?« Sophia schaute die Frau erwartungsvoll an.
Der Mops wollte nun auch genauer hinsehen, doch die Frau hielt ihn zurück.
»Pfui, Luna!« Sie überlegte kurz. »Vielleicht bringen wir ihm ein Stück Brot. Ich bin gleich wieder da.« Luna wäre lieber noch etwas länger geblieben, aber die Frau zog sie mit sich.
Sophia dachte schon, sie käme nicht zurück. Sie hielt bereits eine ganze Weile Ausschau nach dem gelben Regenmantel und Luna. Doch sie kam zurück. Ohne Luna aber mit einer Scheibe Toast in der Hand.
»Hier, das kannst du ihm geben.«
»Mag er das denn auch?«
In den umliegenden Häusern wurde man langsam aufmerksam. Von den Fenstern aus hatte man gesehen, dass sich etwas tat. Mehr und mehr Schaulustige kamen hinzu, um herauszufinden, was da vor sich ging. Bald wurden die ersten Fotos in den sozialen Medien hochgeladen und mit ›Geiler Scheiß!‹ oder ›Da muss doch einer was machen!‹ kommentiert.
Es dämmerte.
Ein Mann ging mit einem Jungen vorbei, der noch jünger war als Sophia.
»Guck mal, Papa. Ein Fisch!« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Pfütze. »Warum hilft dem keiner?«
»Machen die Leute doch. Guck mal, sogar so viele.«
Er zog ihn weiter.
Sophia fragte sich, wie groß die Hilfe wirklich war. Das Stück Toast hatte Herr Fisch, den Namen hatte sie ihm gerade gegeben, jedenfalls nicht angerührt.
Die Frau mit dem gelben Regenmantel war verschwunden.
Ein älterer Herr, der Sophia an ihren Deutschlehrer erinnerte, war erst da, dann weg und kam mit einem kleinen Zettel zurück, den er faltete und in einen Gefrierbeutel steckte, um ihn vor dem Regen zu schützen. Mit einer Stecknadel pinnte er ihn an die alte Platane. Sophia hätte zu gern gewusst, was darauf stand, aber ihr war klar, dass es sich nicht gehörte, nachzusehen.
Die Laternen wurden eingeschaltet, und sie musste nach Hause.
Sobald sie die Augen geöffnet hatte, sprang sie auf und wollte zurück zu Herrn Fisch. Es war Samstag, und Sophias Mutter saß am Küchentisch und scrollte am Handy durch die Nachrichten.
»Kann ich raus?«
»Sophia, Schatz, erstens regnet es immer noch wie blöd und zweitens: erst frühstücken.«
Sie verschlang das Toastbrot, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen.
»Fertig.«
Halb war sie schon ihn ihrem Zimmer verschwunden, um sich anzuziehen, als ihre Mutter rief: »Sophia, Schatz, hattest du gestern nicht was von einem Fisch gesagt?«
Sophia kam aufgeregt zurück.
»Was ist? Was steht da?«
Sie versuchte, einen Blick auf das Handy zu werfen. Ihre Mutter hielt es ihr hin und las vor: ›Ein Zeichen der Menschlichkeit in schwierigen Zeiten. Bewohner kümmern sich um ein hilfloses Tier.‹
Sophia hielt nichts mehr. Sie zog sich an und lief zur Pfütze. Niemand war mehr dort. Auch Herr Fisch nicht. Nur der eingepackte Zettel des älteren Herrn hing noch dort. Sie war sich sicher, dass er für Herrn Fisch bestimmt gewesen war und beschloss daher, ihn nun doch lesen zu dürfen. Als sie den Gefrierbeutel öffnete, überkam sie dennoch ein schlechtes Gewissen, aber ihre Neugier siegte.
Ihre Mutter saß bei ihrem zweiten Kaffee und konnte nicht glauben, wie viele Leute sich über einen verdammten Fisch ausließen. In den Kommentaren zu dem Artikel war alles vertreten –
von ›Der arme Kerl!‹ und ›Wieder mal alle nur zugeguckt!‹
in unterschiedlichen Ausführungen
über ›Echt jetzt, ist ein Fisch gerade unser Problem?‹ und ›Hätte ja einfach weiterschwimmen können …‹
bis zu ›Vielleicht wollte er ja sterben. Suicidal fish!‹
Sophia faltete den Zettel auf. Sie las laut: ›Wir sehen dich.‹
Mark Monetha wurde 1982 in Dortmund geboren und ist ebendort wohnhaft.
Er studierte Germanistik und Philosophie, absolvierte beide Staatsexamina und arbeitete als Pädagoge. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller.
Er veröffentlicht Gedichte und Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften und ist Mitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik (GZL).
2023 erschien sein Lyrikband „Im dunklen Garten ranken die Lebenden“ (edition offenes feld), 2025 sein Lyrikband „Jahresringe an Mondkorona“ (edition offenes feld).
2025 stand er auf der Shortlist des Bonner Literaturpreises.
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