Julie Chatain für #kkl58 „Ethik“
Das Monster in uns
Sie schienen sich vor mir zu fürchten. Von der Seite blickten mich weit aufgerissene Augen an, von vorne bloß angespannte. Sie erwarteten eine Antwort. Ich hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. Ich wusste bereits, was ich sagen würde. Diese Worte hatte ich bereits dutzende Male im Verhör gesagt. Warum versuchten sie also immer weiter, mich zu befragen? Dass sie mich nicht verstanden und nicht wussten was gut für sie war, konnte ich gut verstehen. Sie werden also sehen, lieber Leser, dass ich nicht im Geringsten der Böse war. Denn das war es, wofür sie mich verkaufen wollten. Doch lassen sie mich Ihnen erklären, wie ich überhaupt in diesen großen, geschmückten Saal gelangt bin, warum ich nur Gutes intendiere und auch Sie mich unterstützen sollten.
Ich wuchs in einer liebenden Familie auf. Ich hatte leider nie das Vergnügen, Geschwister zu haben, mit denen ich aufwachsen und zusammen Gottes Wege durch setzen konnte. Ich hoffe, ich verwirre Sie nicht, denn Liebe habe ich immer genug erfahren. Das ist eines der Vorurteile, mit denen ich hier schon zu oft konfrontiert wurde. Meinen Eltern lag es immer sehr am Herzen, mich Gott näher zu bringen, und neben meinem Leben ist dies das größte Geschenk, das sie mir je hätten machen können. Die Bibel war meine „Die Schöne und das Biest“ oder „Moby Dick“. Ich fand Komfort und Liebe darin, mich in Gottes Umarmung sicher zu wissen. Die aller letzte Seite der Bibel war mir meine Liebste. Ganz unten befand sich, in feinster Handschrift meiner Mutter geschrieben, eine meiner liebsten Lehren. Doch Euch diese voll und ganz zu zitieren, will ich natürlich nicht, also werde ich sie schlicht und einfach erklären. Gott schaffte uns die Liebe, das Glück, alles, was unser Herz verlangte. Doch wenn der Teufel seine cleveren Tricks verübte, so würden böse Mächte unsere geliebte Erde bewohnen können. Unsere Aufgabe war es, unseren Planeten der Ihrer zu befreien. Aus dem schlichten Grund, da unser Gott dies alleinständig nicht mehr tun konnte, sobald sie auf der Erde wüteten. Wenn ich richtig liege, erklärten mir meine Eltern seit meinem sechsten Geburtstag, die Wichtigkeit dieser Aufgabe. Sie selbst waren noch nicht dazu gekommen und hatten sich vereinigt, um mich dieser Tätigkeit würdig zu machen. Ich war erstaunt über die Macht unseres Gottes. Ich bin es immer noch. Sie sehen also, lieber Leser, ich habe mein Leben aus aufrichtigen Gründen Gott gewidmet. Als ich aufwuchs, konnte ich immer wieder die Richtigkeit der Lehre meiner Eltern auf die Probe stellen. Durch meine Erfahrungen wurde mir klar, dass die Erde tatsächlich meine Hilfe brauchte. In der Schule wurde ich verspottet, als ich versuchte meinen Klassenkameraden die Wichtigkeit dieses Auftrags zu erläutern. Ihr Gelächter hallt mir heute noch in den Ohren. Wie sie mit dem Finger zeigten und Tränen ihnen vor Lachen die roten Wangen herunter kugelten.
Meine Überzeugung verstärkte sich, als ich mit dreizehn Jahren einem Mädchen begegnete. Ihr Anblick hatte mich im ersten Moment gefesselt. Sie war wie eine Magnolie im Mai. Ich hoffe, Sie haben nicht gedacht, ich wäre nicht im Stande dazu zu lieben. Viele die dies hier lesen, zweifeln wohl erst an meiner Fähigkeit zu lieben, oder denken, dass ich im Unrecht wäre. Aber lesen Sie weiter. Sie werden sehen, dass wir uns gar nicht so sehr unterscheiden, wie Sie Anfangs vielleicht dachten. Doch kommen wir zurück zu meiner Elena, meiner Magnolie. Sie war wie von Gott gesandt: bildhübsch und freundlich zugleich. Bei einer Prügelei, in welcher ich das „Opfer“ war, was nicht selten der Fall war, half sie mir. Auch wenn ihr Versuch mich zu schützen gescheitert war und ich mit blauen, geschwollenen Augen zurück in den Klassenraum trat, wusste ich, dass Gott sie billigen würde. Die nächsten Monate, liebe Leser, waren, neben den zuletzt Vergangenen, die mir Liebsten meines ganzen Lebens. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Sie schien meine Gesellschaft zu genießen und zu ehren. Es war an einem warmen Frühlingsmorgen, die Magnolien waren fast gereift, als der Verrat mir bewusst wurde. Ich erfuhr, dass sie in einem Kurs den Namen Gottes beschmutzt hätte. Euch soll also gesagt sein, immer den Wolf im Schafspelz, oder den Teufel hinter der Maske eines Engels zu erkennen. Um mich der Richtigkeit dessen zu versichern, nahm ich an einem ihrer Kurse teil. Von allein hätte ich niemals einen Fuß in den Raum gesetzt, in welchem Tag ein Tag aus Platon analysiert wurde. Die Richtigkeit der fremden Worte wollte ich jedoch trotzdem überprüfen. Wer war also die Schlange? Der Beschuldigende, oder meine Elena? Seien Sie nicht überrascht, lieber Leser, denn Gott stellt Sie öfters auf die Probe. Als mir also offenbart wurde, dass diese schöne Magnolie sich als Unkraut heraus stellte, dankte ich Gott. Er habe mir abermals bewiesen, dass die Erde gerettet werden müsse. Vor jenen, die sich als Menschen ausgaben, jedoch keine waren. Die wahren Menschen, sind jene, die Gott erschuf. Nur der Teufel schickt Monster.
Als ich heranwuchs, sah und hörte ich so viel. Ich war mir also als erwachsener Mann sicher, ich wäre der, der uns alle befreien würde. Ich würde nicht länger tatenlos zu sehen, wie unsere Welt und Gesellschaft auseinander fällt. Dieser bedeutsame Tag, liebe Leser, war genau vor zwei Jahren. Vor zwei Jahren saß ich um diese Uhrzeit ebenfalls in einem gepolsterten Stuhl. Damals jedoch waren keine Handschellen um meine Gelenke gelegt. Ich war ein freier Mann gewesen. Ich erinnere mich, als würde ich diese Szene in diesem Moment ein zweites Mal erblicken. Vor meinen Füßen lag ein Mann, welchen Ihr wohl kennt. Seinen Namen werde ich nicht nennen. Er war mir seit meiner Kindheit aufgefallen. Wie ein Dorn in meinem Auge war er, als er wieder und wieder in dem Fernseher auftauchte. Das Problem an ihm war, dass Sünden nicht nur in seinen Gedanken ruhten, denn er übertrug diese ebenfalls auf unsere Mitmenschen. Meiner Aufgabe gegeben, konnte ich dies natürlich nicht zu lassen. Seit zwei Jahren also weilt er nicht mehr unter uns. Ich kann Ihnen nicht sagen, dass dieser Tag der einzige seiner Art war. Ich hatte begonnen, und musste mein Werk vollenden. Warten konnte ich nun nicht mehr. Die Einzelheiten will ich Ihnen nicht schildern, lieber Leser. Die genaue Anzahl meiner Taten ebenfalls nicht. Sie müssen nur wissen, für das Moralsystem unserer Gesellschaft reichte es, mich auf eine lebenslange Haft, ohne Aussicht auf Entlassung anzuklagen.
Nun wissen Sie also, wo ich mich befinde und warum. Sie können dies womöglich nach vollziehen. Ich meinerseits jedoch nicht. Wie unser Staat orientiere ich mich an einem Buch. Welches dieses für sie nun ist, liebe Leser, tut für mich nichts zur Sache.
Vielleicht habe ich mittlerweile zu lange geschwiegen, denn die angespannten und ängstlichen Blicke wirken nun von Zorn erfüllt. Warum verurteilen die Menschen auf den Bänken mich? Tue ich nicht das Gleiche wie sie? Verhalten sie sich nicht auch, wie ihre Eltern, ihre Umwelt, es ihnen zeigte? Sie sehen mich vielleicht als Monster, doch bin ich, in meiner Sicht, das komplette Gegenteil. Denn ich sitze nun hier und werde meine letzten Atemzüge hinter Gittern nehmen. Die Sicht ist in diesem Fall von hoher Relevanz, liebe Leser. Dass jeder Mensch anders denkt, habe ich schon sehr früh gemerkt. Sie vermuteten vielleicht, ich wäre nicht dazu fähig, dies zu denken. Wir alle haben Ziele. Die Mehrheit der Menschheit hat sich darauf fest gelegt, beispielsweise Schauspieler oder Pilot zu werden wäre ein moralischeres Ziel als das Meine. Dabei vergessen sie, Moral definiert sich nach der Person. Selbst wenn wir Gesetze haben, die uns vorschreiben welche Sicht der Moral „richtig“ ist, wird es immer Menschen geben, die anders denken. Sie selbst vielleicht auch. Womöglich nicht so wie ich, doch in einer Art werden sie sich von den Gesetzgebenden unterscheiden. In der Moral gibt es kein „richtig“ oder „falsch“. Die Moral ist nichts menschliches. Dies sage ich auf anderen Meinungen basierend. Wenn Sie Empathie, Sympathie oder Hilfsbereitschaft als „menschlich“ beschreiben, dann ist die Moral es nicht. Denn Moral variiert. Ihre Wahrnehmung der Menschlichkeit jedoch nicht. In diesem Gerichtssaal blicke ich in die verschiedensten Augen und kann hinter ihnen auch nur die verschiedensten Meinungen erkennen. In einem Raum voll von diesen Menschen bin ich ein Monster, da sie mich als eins sehen. Ich selbst sehe mich jedoch nicht so. Damit bin ich eine Dissonanz der verschiedensten moralischen Sichtweisen der menschlichen Ethik. Dies sind wir alle. Diese Eigenschaft ist womöglich eine der Wenigsten in der sich alle Menschen ähneln. Durch mein Urteil verändert sich weder meine Intention, noch mein Glaube. Ich tat dies alles, um unser Willen, der Menschheit-Willen.
Julie Chatain, geboren 2010, lebt in Nordrhein-Westfalen.Sie schreibt seit ihrer Kindheit und interessiert sich besonders für psychologisch geprägte und tiefgehende Erzählungen. In ihren Texten beschäftigt sie sich mit Themen wie Glauben, menschlicher Wahrnehmung und Rätseln. Für sie ist Schreiben eine Möglichkeit, innere Welten sichtbar zu machen.
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