Der Tod und das Mädchen

Veronika Quincas für #kkl58 „Ethik“




Der Tod und das Mädchen

“Vorüber, ach vorüber,

Geh, wilder Knochenmann,

Ich bin noch jung, geh Lieber

Und rühre mich nicht an!”

                                                 Mathias Claudius

Wieder einmal sangen wir dieses eindruckvolle romantische Lied in der Vertonung von Franz Schubert mit unseren brasilianischen Musikstudenten. Der Kurs fand in Modulen von mehreren Tagen in einer typischen Fazenda aus der Zeit des Café-Booms in der sanft hügeligen Gegend im Hinterland São Paulos statt. Das hübsche Kirchlein aus dem portugiesisch geprägten kolonialen Barock half uns mit seiner grossartigen Akustik, tief in die starken Kontraste zwischen der  dramatischen ersten Strophe und der unausweichlich daherschreitenden Antwort des Gevatter Todes einzutauchen:

“….sollst sanft in meinen Armen schlafen…”

Das Thema Liebe und Tod ist sehr wichtig in der Arbeit mit Jugendlichen. Sie sollen ihre eigenen Gefühle und tiefen Instinkte kennenlernen, um sie verantwortlich beherrschen zu können. Was man künstlerisch erlebt, muss dann nicht unbedingt physisch ausgelebt werden, so lautet die These.

Um uns herum floriert eine vielfältige, organische Landwirtschaft. Ich stehe früh morgens auf und stehle ich mich auf das Erdbeerfeld, um bei der aufgehenden Sonne ein Stück Seligkeit zu erleben.

In der Mittagspause spaziere ich über die Kuhweide, an uralten, mit allerlei Schlingpflanzen bewachsenen Bäumen vorbei   zum    Bächlein  mit seinem glasklaren Wasser. Hier spielen tausende von vielfarbigen  Schmetterlingen in der Sonne. Ich setze mich auf meinen Lieblingsstein mit Blick auf das alte Herrenhaus, weiss mit blauen Fenstern und Türen, wie es sich  gehört. Dahinter erstrecken  sich die Ruinen der  ehemaligen Senzala, wo einst die Sklaven hausten.

 Mit einem leisen Schaudern denke ich an die schrecklichen Szenen, die sich dort, wie überall in der Gegend, abgespielt haben müssen. Man erzählte uns, dass einer der Herrensöhne vom Ehemann einer Sklavin erschlagen wurde, nachdem er sich an ihr vergangen hatte. –

Eine unserer Studentinnen schwört, sein Gespenst im Dunkeln vor der Kirche gesehen zu haben…

 Unser Studenten- Chor  beschliesst, ein kleines Sing-Ritual in der Senzala abzuhalten. Wir wollen der Vergangenheit gedenken und die Gegenwart feiern. Wie gut, dass wir heute mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit haben als noch vor 150 Jahren üblich!

Es vergehen einige Monate. Eine neue Generation findet uns altmodisch und wir ziehen uns aus dem Kurs zurück. Die Fazenda ist inzwischen sehr beliebt als Kultur-und Ausflugsort. Besonders die traditionellen, wohlhabenden Schulen von São Paulo nutzen sie gerne für ihre Klassenfahrten.

Da geschieht das Unfassbare. Plötzlich ist der Name der Fazenda in allen Medien. Eine liebe, hübsche 16-jährige Schülerin einer berühmten Schule für bessergestellte Familien   verschwand spurlos an einem heissen Nachmittag während einer Aktivität in kleinen Gruppen.   Es wurde mit  Polizeieinheiten, Hubschraubern, Spürhunden gesucht.

Tags darauf wird sie vom Hubschrauber entdeckt,  ziemlich abseits von ihrem Arbeitsgebiet. Sie liegt auf dem Bauch, als ob sie schlafen würde. Es sind absolut keine Zeichen von Gewalt an ihrem Körper zu finden, wenn man der örtlichen Polizei und der Gerichtsmedizin glauben darf.

Es heisst, das Mädchen hätte wohl eine Art Sonnenstich erlitten, während sie allein auf dem Weg zur Toilette war – etwa ein halber Kilometer Wegstrecke –   und wäre an einer Konvulsion gestorben.

Der Vater, ein einflussreicher Unternehmer, kann sich  mit dieser Erklärung nicht abfinden. Seine Tochter sei gesund, sportlich, diszipliniert, ehrlich gewesen. Ausserdem werden reihenweise Vernachlässigungen bei der Ermittlung der Todesursache angeprangert. Aber merkwürdigerweise versickern alle Bemühungen wie Wasser im Wüstensand.

Es vergehen  10 Jahre. Eines Abends kommt eine Reportage im Fernsehen mit dem Titel: ”Wer ermordete Vanessa?” Wir erfahren, dass  der Vater mithilfe von internationalen Kriminalisten etliche Beweise zusammenstellen konnte und seit Langem darum kämpft, dass der Prozess wieder aufgenommen wird.

 Das Mädchen wurde wohl mit den Armen rücklings erwürgt. Lag  dann einige Stunden auf dem Rücken in einem geschlossenen Raum. Wurde  offensichtlich im Morgengrauen  sorgfältig in jene Schlafstellung drapiert.

Es gibt keine vernünftige Erklärung für den Ort, wo sie aufgefunden wurde. Wer würde schon in die Gegenrichtung bergauf gehen, wenn es ihm schlecht ist?

Ausserdem hätten die Spürhunde am Haus und am Auto eines  gewissen Arbeiters der Fazenda angeschlagen. Sein Alibi ist eher schwach. Er habe seine Familie an jenem Nachmittag  zum Notdienst gefahren. Sei dann im Auto geblieben. Es gibt keine Beweise, nur die Aussagen seiner Frau.

 Genau dieser Arbeiter ist der Polizei bereits bekannt, weil er einige Jahre vorher ein junges Mädchen  im gleichen Alter, mit ähnlichem Aussehen, belästigt hätte. Er hatte es auch mit Würgen versucht, wäre aber durch das Geschrei und  die radikale Notwehr der Jugendlichen abgeschreckt worden. Danach habe er die Familie bedroht, und die Anzeige wurde zurückgezogen.

All dies wird in der Reportage erwähnt. Es wurde auch  eine Belohnung ausgesetzt, im Falle von relevanten Informationen.

Dann heisst es noch, die Schule habe von Anfang an einen Anwalt mit eingeschaltet. Er ist Spezialist für Kriminalfälle. Er habe alle Zeugenaussagen der Schüler, Lehrer und Mitarbeiter der Fazenda begleitet. Wozu das alles, wenn es sich doch um einen natürlichen Tod handelt?

Und:    Die Klassenbetreuerin, die sicherlich die Schlafräume der Schülerin abends besuchte und jede Schülerin sehr gut mit ihren Gewohnheiten kannte, hatte sich beim ersten Interview mit der Presse  folgendermassen geäussert: “ Vanessa wurde so aufgefunden, dass sie zu schlafen schien. Sehr friedlich, in ihrer Lieblingsposition. “

Nur dass sie zu dem Zeitpunkt noch keine detaillierten Nachrichten und auch keine Fotos von dem Tatort besass.

Ob dieser Fall jemals aufgeklärt wird, steht in den Sternen. Gibt es Gleichheit vor dem Gesetz? Oder ist uns der Ruf von angesehenen Einrichtungen wichtiger?

Eines weiss ich: die betroffenen Personen werden mit ihren Erinnerungen leben müssen. Vor allem die Kollegen und Kolleginnen, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf ihre Fahne geschrieben haben.




Veronika Quincas, Jahrgang 1964, in Hannover aufgewachsen, lebt und arbeitet seit fast 30 Jahren in Brasilien, als Lehrerin, Ausbilderin und Kulturschaffende. Zusammen mit Partnerschulen in Deutschland führte sie verschiedene Projekte des  Kulturaustausches mit Vertretern indigener Gruppen durch. Ausserdem setzt sie sich ein für ein Verarbeiten der rassistischen Vergangenheit in Brasilien. 







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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