8 Tage im Oktober 77

Christian Knieps für #kkl58 „Ethik“




8 Tage im Oktober 77

Eine Nachbetrachtung

I Referenz auf heute

Das Thema des gesellschaftlichen Gemeinrechts gegen individuelles Einzelrecht ist angesichts eines hohen heutigen Selbstverwirklichungsstrebens und stärker auf den Einzelnen wirkenden Populismus’ aktueller denn je. Die Gefahr von Terrorismus ist zwar aufgrund der aktuellen Krisen und Kriege in den Hintergrund gerückt, doch es betrifft nur den organisierten Terrorismus und nicht den im Kleinen befindlichen strukturellen Alltagsterrorismus.

Dennoch ist die Diskussion, die mit der Entscheidung rund um die Entführung der Landshut und der nicht vollzogenen Freilassung der RAF-Spitze im Oktober 1977 einhergeht, eine, die einen starken Bezug auf heute hat, denn die Frage nach dem Einzelrecht (Freilassung einzelner Personen, Überleben von Hanns Martin Schleyer, sicheres Überleben der Geisel) gegenüber dem Gemeinrecht (Schutz der deutschen Gesellschaft vor weiterem strukturellem Terrorismus) ist in vielen Fällen übertragbar auf heutige Themenfelder.

Die Entscheidung aus dem Oktober 1977, die im Bonner Kanzlerbungalow immer wieder diskutiert und immer wieder getroffen wurde, das Gemeinrecht über das Einzelrecht zu stellen, sollte uns die Frage mitgeben, warum unsere Gesellschaft heute so oft in Richtung des Einzelnen entscheidet – anstatt erst einmal die Gemeinschaft in den Mittelpunkt zu stellen – und ob es wieder solcher Krisen bedarf, um dieses Verhältnis zurechtzurücken.

II Hintergrund

Die Entführung der Landshut war nur die Spitze der Krisen, die die deutschen Bundesregierungen unter Brandt und Schmidt bewältigen mussten, denn der Terror der RAF und anderer Gruppierungen (Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen…) hielt das Land bereits seit Jahren im Würgegriff (nur einige Ereignisse: Anschlag im Olympischen Dorf 1972, Bombenanschläge, Raubüberfälle, Entführung Peter Lorenz’ in Berlin, Angriff auf die deutsche Botschaft in Stockholm, Tötung von Siegfried Buback und Jürgen Ponto als Vorläufer der Entführung von Hanns Martin Schleyer im Jahr 1977…).

Im Jahr vor der Landshut-Krise, am 27.06.1976, entführte die PFLP-SC (d. i. Splittergruppe der Volksfront zur Befreiung Palästinas) bereits eine Air-France-Maschine ins ugandische Entebbe – diese Entführung wurde durch einen Sturm von einem israelischen Spezialkommando blutig beendet.

Es herrschte ein allgemeines Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Terroristen in der Gesellschaft, und während die erste RAF-Generation noch viele Unterstützer hatte, verlor die zweite Generation aufgrund ihrer Brutalität viel Zuspruch. Da es das erklärte (und vielleicht zu diesem Zeitpunkt einziges) Ziel der RAF war, die Spitze aus dem Gefängnis freizupressen, eskalierte die Gewalt im Herbst 1977, die zunächst am 05.09.1977 zu der Entführung von Hanns Martin Schleyer führte, ehe die Landshut am 13.10. entführt wurde, da die Bundesregierung gegen einen Austausch der Gefangenen war.

III 8 Tage im Oktober 1977 (13.–20.10.1977)

Mit der Entführung der Landshut, einer Lufthansa-Maschine, die am 13.10.1977 von Mallorca nach Frankfurt am Main unterwegs war, wollte die zweite Generation der RAF den finalen Showdown erzwingen, da sie erwartete, dass eine große Anzahl an Geiseln die Bundesregierung umstimmen würde. Der Wechsel von Personen, die im öffentlichen Leben standen (Ponto, Buback, Schleyer), zu normalen Menschen sollte den Terror in die Mitte der Gesellschaft tragen, in der Hoffnung, dass sich die politische Elite anders entscheiden würde.

Diese Fragen wurden neben der Situation um Schleyer innerhalb verschiedener Gruppen besprochen: dem Kleeblatt rund um Helmut Schmidt (die engsten Vertrauten), der Kleinen Lage und der Großen Lage. Der Bundeskanzler war damit zu jeder Zeit mit seinen Kollegen abgestimmt und konnte aus der gemeinsamen Überzeugung argumentieren, dass den Forderungen der RAF nicht nachgegeben werden sollte.

Zuvor hatte bereits Hans-Jürgen Wischnewski, Staatsminister im Bundeskanzleramt, mit jenen Ländern verhandelt, die die Gefangenen als mögliches Fluchtland benannt hatten, und auch in dieser Krise reiste er der Landshut hinterher, um mit den lokalen Mächten zu verhandeln. Obwohl ihm nicht alles gelang, kann konstatiert werden, dass sein Verhandlungsgeschick insbesondere in Mogadischu, Somalia, von entscheidender Bedeutung für den Verlauf der Befreiungsaktion war.

Am 18.10.1977 um 00:05 MEZ (+2 Stunden vor Ort) erhielt die GSG9-Spezialeinheit das Startsignal für den Zugriff, der über 6 Einstiege funktionierte und mit dem alle Geiseln befreit werden konnten. Am Ende starben während der Entführung 3 Entführer (eine Überlebende) und der Pilot Jürgen Schumann, der am 16.10. vom Anführer der Gruppierung beim Zwischenstopp in Aden hingerichtet worden war. Um 00:12 MEZ konnte Wischnewski die frohe Botschaft überbringen, dass der Zugriff erfolgreich war – Helmut Schmidt wäre im Falle einer hohen Anzahl an menschlichen Verlusten von seinem Amt zurückgetreten.

Nachdem die Nachricht über die Medien verteilt wurde (es gab eine abgestimmte Pressesperre über die Agenturen ab 21:30 MEZ), kam es zu der Todesnacht von Stammheim; in der Folge wurde Hanns Martin Schleyer von der RAF getötet und am 19.10. im Kofferraum eines Audi 100 in Mülhausen gefunden.

Am 20.10. gab der Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Regierungserklärung ab, in der er die Beweggründe der Entscheidungen darlegte – damit endete eine der tiefsten Krisen der Bundesrepublik Deutschland.

IV Die Entscheidung für das Gemeinwohl

In einer ähnlichen Situation wie bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer befand sich Helmut Schmidt bereits zwei Jahre zuvor, als Peter Lorenz (CDU, Spitzenkandidat zur Wahl in Berlin) 3 Tage vor der Wahl entführt wurde. Damals intervenierten Helmut Kohl (CDU-Vorsitzender) und Klaus Schütz (SPD, OB Berlin), dass die herausgepressten Gefangenen ausgetauscht werden sollten, und auch wenn Helmut Schmidt dagegen war, setzten sich die Stimmen im Berliner Senat durch, sodass der Austausch stattfand. Da drei der vier Entlassenen, die nach Aden ausgeflogen wurden, kurze Zeit später wieder terroristisch aktiv waren, zog die Bundesregierung und vor allem Helmut Schmidt die Konsequenzen aus der Entscheidung.

Diese im Nachhinein von allen Beteiligten als falsch empfundene Entscheidung war die Grundlage für die Haltung, dass mit Terroristen nicht mehr verhandelt werden würde, was als neue Regierungsrichtlinie die Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Landshut einschloss.

Schmidt argumentierte in mehreren Interviews, Stellungnahmen und Regierungserklärungen, dass der Terrorismus gegen den Willen des ganzen deutschen Volkes stünde und der Staat mit aller notwendigen Härte auf weitere Bedrohungen antworten müsste, denn der Terrorismus – und insbesondere die RAF – müsste verstehen, dass der Gemeinwille der Deutschen stärker war als der ihrige.

Diese Entscheidung für das Gemeinwohl – und damit gegen das Schicksal der Einzelnen – ist aus menschlicher Perspektive kaum nachzuempfinden, denn die Familie von Schleyer forderte über Wochen hinweg vom Kanzler den Gefangenenaustausch, und als die Landshut entführt wurde, kamen die Stimmen der Familien dazu, die Angehörige in der Maschine hatten. Als dann noch Hanns Martin Schleyer aus seiner Geiselhaft und Gabriele Dillmann an Bord der Landshut einen letzten Appell an die Regierung richteten, war die emotionale Dramatik nicht mehr zu überbieten.

Doch die Verantwortlichen widerstanden dem Druck aller Beteiligten und behielten in der Nachbetrachtung Recht – der Umgang mit dem Terrorismus in der Welt hatte sich verändert. Die Aussicht, dass die Gewaltspirale ohne Ende wäre, da der Terrorismus fast immer keine finale institutionelle Lösung im Blick hat, teilten auch Schmidts Amtskollegen d’Estaing und Callahan, aber auch vier Schriftsteller (Böll, Lenz, Frisch, Unseld), die am 16.10. für mehrere Stunden vor Ort waren, um über Terrorismus und dessen Motivation zu diskutieren.

Von Bonn und dem Kanzlerbungalow ging mit dieser Entscheidung eine Grundsatznachricht an den Terrorismus in die Welt, dass ein Staat eineindeutig die Aufgabe hat, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen – zur Not auch gegen das Wohl des Einzelnen.

Quellen





Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet als Abteilungsleiter bei DHL Express in Bonn und schreibt Theaterstücke (veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, Plausus Theaterverlag, meintheaterverlag und Ostfriesischer Theaterverlag), Kurzgeschichten (in einigen Zeitschriften wie Dreischneuß, experimenta, Litges… veröffentlicht) und Romane.

http://christianknieps.net/

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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