Andrea Tillmanns für #kkl58 „Ethik“
Im Labyrinth
Später konnte Ansgar sich selbst sein Verhalten nicht erklären. Die Freunde, die mit ihm gelacht hatten, vielleicht auch das Bier, dem sie ebenso zugesprochen hatten wie die anderen Menschen im Schützenzelt – erst lange danach gestand er sich ein, dass da noch ein anderer Grund gewesen sein musste, weshalb er so reagiert hatte.
Er hatte den Mann im Glaslabyrinth gesehen, ein oder zwei Windungen hinter dem Eingang erst, vielleicht gar kein Jahrmarktbesucher, eher ein Angestellter dieser Attraktion. Als Ansgar ihn erblickt hatte, war er wie versteinert stehengeblieben.
Es war nicht der bucklige Rücken des anderen gewesen, und das Hinken hätte Ansgar ebenso wenig gestört wie die verkrüppelte rechte Hand. Das eigentlich Grauenvolle was das Gesicht des Fremden, ein ganz durchschnittliches Gesicht, wäre nicht der linke Mundwinkel zu einem höhnischen, monströsen Grinsen hochgezogen gewesen, sein Mund dadurch verzerrter, als es möglich sein dürfte, in der qualvollen Parodie eines Lächelns.
Irgendwann hatte er bemerkt, dass dieser Mann ihn ebenfalls ansah, seit geraumer Zeit wohl schon, und da hatte Ansgars Gesicht sich wie ohne sein Zutun zu einer gespiegelten Grimasse verzogen, die Freunde hatten gelacht, und als sie endlich weitergegangen waren und Ansgar das bittere Gefühl im Magen ebenfalls wegzulachen versucht hatte, hatte er das Ziehen in seinem überdehnten Gesicht gespürt.
In diesem Jahr war er nicht mehr zum Jahrmarkt gegangen. Im darauffolgenden Herbst jedoch schien ihn der Kirmesplatz magisch anzuziehen, bis Ansgar sich schließlich auf den Weg dorthin machte, unsicher zuerst, doch dann immer schneller, bis er endlich in der Abenddämmerung vor dem tiefrot beleuchteten Glaslabyrinth stand. Der Moment, bis er den verkrüppelten Fremden zwischen den anderen Menschen ausgemacht hatte, dehnte sich schier endlos, während eine unbegreifliche Angst ihm den Atem raubte. Und im nächsten Moment spürte Ansgar, wie sein eigener Mund sich wieder zu einem unvollkommenen Abbild der furchtbaren Grimasse formte, die der andere Mann ihm zuwandte.
Auch in diesem Jahr schwor sich Ansgar, nie wieder zu dem Jahrmarkt zu gehen, und wenn doch, dann zumindest einen großen Bogen um das Glaslabyrinth zu machen. Es gelang ihm nie.
Wenn er den verkrüppelten Mann in einem Jahr nicht sofort entdeckte, pflegte Ansgar sich fieberhaft umzusehen, während in seinem Magen eine seltsame Furcht aufstieg, der Fremde könne dieses Mal nicht mehr zurückgekehrt sein. In manchen Jahren dagegen sah er den anderen schon von weitem, wie er durch die rot schimmernde Glasscheibe hinausstarrte in die Nacht und auf Ansgar zu warten schien.
Wieder und wieder kehrte er an den Ort zurück, der ihn mehr ängstigte als alles, was er bisher erlebt hatte, und ihn doch unwiderstehlich anzog; ein festes Ritual in jedem Herbst, der die Jahrmärkte in der Stadt und den umliegenden Dörfern erblühen und kurz darauf wieder vergehen ließ. In jedem Jahr fand Ansgar den Fremden an einem anderen Ort innerhalb des Glaslabyrinthes, manchmal schien er näher am Ausgang zu stehen und dann wieder ein Stück weiter davon entfernt, doch das mochte täuschen in diesem gläsernen Labyrinth. Immer schien der Mann auf ihn zu warten, aber auch dies war wohl ein trügerischer Eindruck, und wer wusste schon, was hinter dieser ungestalten Miene vorgehen mochte.
Als er sich nun wieder dem Platz näherte, an dem das Glaslabyrinth seit Jahren stets gestanden hatte, wurde er von der gleichen fiebrigen Erregung ergriffen, die sich seiner stets in diesen Momenten bemächtigte. Mit immer schnelleren Schritten eilte er durch die Menschenmenge, die sich langsam von einer Attraktion zur nächsten treiben ließ, rempelte einzelne an, atemlos vor Anspannung, bis er das Schild entdeckte, das über dem Eingang der Labyrinthes ein unvergessliches Abenteuer versprach. Nun erst verlangsamte er seine Schritte, kostete den Moment der Gewissheit aus, dass er wenig später wieder dem verkrüppelten Fremden gegenübertreten würde, bis er direkt vor dem Labyrinth stehenblieb. Das altbekannte dunkelrote Licht sollte wohl unheimlich wirken, doch nun, am frühen Nachmittag, wo Wolken und vorbeiströmende Menschen sich gleichermaßen in den Glasscheiben spiegelten und jeden Gedanken an ein Abenteuer im Keim erstickten, empfand er diese Farbgebung eher als ärgerlich.
Wie immer war Ansgar erleichtert, als er den buckligen Mann endlich entdeckte, offenbar nur eine Wand von dem Ausgang des Glaslabyrinthes entfernt, doch lagen wohl noch viele Windungen zwischen ihm und dem Fremden, wie es in Labyrinthen meist der Fall war. Er spürte die gleiche Mischung aus Abscheu und einer unbegreiflichen Befriedigung wie in all den Jahren zuvor, als der andere ihm das entstellte Gesicht zudrehte und Ansgar seinen Mund zu einer gespiegelten Grimasse verzerrte, und zum ersten Mal in all den Jahren hatte er das Gefühl, dass es gar nicht schwer war, den Mundwinkel viel weiter zur Seite zu ziehen, als es möglich sein dürfte; fast schien ihm diese Grimasse natürlicher als sein normales Lächeln, so leicht glitt sein Gesicht in diese andere Form.
Einen Moment lang sahen beide sich an, genau wie jedes Jahr und doch ganz anders, als der Fremde sehr langsam einen Schritt zur Seite trat und gleichzeitig stehenzubleiben schien, zwei furchtbar entstellte Männer, von denen einer Ansgars Kleidung trug.
Noch einmal, als er einen atemlosen Augenblick lang zu begreifen begann, ohne es wahrhaben zu wollen, wandte er langsam seine Augen nach rechts, wo der verkrüppelte Mann neben dem Glaslabyrinth stand und ruhig zurückblickte. In all den Jahren zuvor hatte Ansgar nie bemerkt, wie viel Mitgefühl in dieser grauenhaft verzerrten Grimasse lag.
Andrea Tillmanns lebt in Ostwestfalen-Lippe, arbeitet hauptberuflich als Hochschullehrerin und schreibt seit vielen Jahren Gedichte, Kurzgeschichten und Romane in verschiedensten Genres. Weitere Informationen zu Veröffentlichungen und Lesungen sind auf http://www.andreatillmanns.de zu finden. Aktuell: „Aachener Ansichten“, ein Foto-Gedichtband.
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